Bre­men und der Han­nah-Are­ndt-Preis für poli­ti­sches Denken

Was hier auf dem Spiel steht, ist die fak­ti­sche Wirk­lich­keit selbst,
und dies ist in der Tat ein poli­ti­sches Pro­blem aller­ers­ter Ordnung.
Han­nah Arendt

In weni­gen Tagen wird wie­der im Rat­haus der Stadt Bre­men der ‚Han­nah-Are­ndt-Preis für poli­ti­sches Den­ken‘ ver­lie­hen, aus Bre­mer Mit­teln kommt die eine Hälf­te des Preis­gel­des, die ande­re Hälf­te stammt von der Hein­rich-Böll-Stif­tung. Geehrt wer­den in die­sem Jahr Per­so­nen, die in poli­ti­schen Ord­nun­gen leben müs­sen, in denen das orga­ni­sier­te poli­ti­sche Lügen zum All­tag gehört. Doch so weit weg brau­chen wir gar nicht zu schau­en. Wäh­rend gewöhn­lich bei Prei­sen, die nach berühm­ten Per­so­nen benannt sind, gefragt wird, ob die­je­ni­gen, die den Preis erhal­ten, sich auch des gro­ßen Namens wür­dig erwei­sen, wol­len wir hier die Fra­ge ein wenig anders stel­len: Sind denn die Preis­ver­lei­her wür­dig genug, sich mit dem Namen Han­nah Are­ndts zu schmü­cken? Statt von Bre­men aus Han­nah Are­ndt zu lesen, wer­den wir hier von Han­nah Are­ndt aus auf Bre­men bli­cken, lie­fert doch die Preis­ver­lei­hung Anlass genug, zu fra­gen, von wel­cher tat­säch­li­chen Rele­vanz Über­le­gun­gen von Han­nah Are­ndt für die poli­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten sind. Aus aktu­el­lem Anlass muss man näm­lich Sor­ge haben, dass es in die­ser schö­nen Stadt um die ‚fak­ti­sche Wirk­lich­keit‘ nicht gut bestellt ist. Längst hat sich auch in Bre­men das orga­ni­sier­te poli­ti­sche Lügen einen fes­ten Platz im Reper­toire poli­ti­schen Han­delns erobert, was es recht­fer­ti­gen mag, eine Fra­ge Han­nah Are­ndts aus einem Essay von 1964 mit dem Titel ‚Wahr­heit und Poli­tik‘ wie­der auf­zu­grei­fen, die Fra­ge näm­lich, wel­chen Gefähr­dun­gen die Tat­sa­chen­wahr­heit im poli­ti­schen Bereich aus­ge­setzt ist und in wel­cher Wei­se die ‚Wür­de die­ses Bereichs‘ dadurch bedroht ist. Der Essay ist Teil des Sam­mel­ban­des ‚Zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Zukunft - Übun­gen im poli­ti­schen Den­ken I‘.

Bre­men hat, wie ande­re Städ­te auch, gera­de ein gro­ßes Pro­blem mit der schie­ren Anzahl von Flücht­lin­gen, was unter ande­rem der gro­ßen Gleich­gül­tig­keit geschul­det ist, mit der wir die Aus­brü­che von Gewalt in unse­rer nähe­ren und wei­te­ren Umge­bung acht­los gesche­hen las­sen. Nun sind Flücht­lin­ge nicht gleich Flücht­lin­ge, es gibt Unter­schie­de, eini­ge kom­men aus Kriegs­ge­bie­ten, haben eine wah­re Odys­see hin­ter sich und sind gera­de noch mit dem Leben davon gekom­men, ande­re suchen ein­fach nur ein bes­se­res Leben, und wie­der ande­re suchen etwas ganz ande­res. Bei der Grup­pe der im schöns­ten Amts­deutsch genann­ten ‚unbe­glei­te­ten min­der­jäh­ri­gen Flücht­lin­ge‘ ver­schärft sich das Pro­blem, weil sie bis­lang nicht nach einem bestimm­ten Schlüs­sel auf die ein­zel­nen Bun­des­län­der ver­teilt wer­den, son­dern da ‚in Obhut genom­men‘ wer­den müs­sen, wo sie auf­ge­grif­fen wer­den. Auch unter die­sen gibt es erheb­li­che Unter­schie­de, was ihre Her­kunft, ihre Flucht­grün­de, ihre Flucht­mo­ti­va­ti­on und die Art und Wei­se anbe­langt, wie sie hier­her kom­men. Das alles wäre nicht der Rede wert und hät­te vor allem auch wenig mit Han­nah Are­ndt zu tun, aber unglück­li­cher­wei­se gibt es unter die­sen min­der­jäh­ri­gen Flücht­lin­gen eine spe­zi­el­le Teil­grup­pe von weni­gen Per­so­nen, die in kur­zer Zeit ein beacht­li­ches Straf­ta­ten­kon­to auf­ge­türmt haben, und die man des­halb nach all­ge­mein geteil­ter Ein­schät­zung als ‚Inten­siv­tä­ter‘ ein­stu­fen muss. Damit ver­kom­pli­ziert sich die Ange­le­gen­heit, denn nun ist, allein schon juris­tisch gese­hen, nicht nur das Jugend­hil­fe- und das Aus­län­der­recht, son­dern zusätz­lich auch noch das Straf­recht mit all den für sein Urtei­len bedeut­sa­men Rechts­gü­ter­ab­wä­gun­gen im Spiel. Da es sich auch um Gewalt­ta­ten han­delt, bei einer Mes­ser­ste­che­rei bereits ein Mensch zu Tode gekom­men ist, spie­len neben dem Schutz eines Flücht­lings auch ande­re Rechts­gü­ter wie kör­per­li­che Unver­sehrt­heit oder die Auf­recht­erhal­tung der inne­ren Ord­nung eine gewis­se Rol­le. Aus­schließ­lich um die­se klei­ne Grup­pe geht es. Hier nun fängt die Geschich­te an, inter­es­sant zu wer­den und eine gewis­ser­ma­ßen Arendt’sche Note zu bekom­men, denn die Per­so­nen die­ser spe­zi­el­len Grup­pe sind sowohl Flücht­lin­ge, als auch Inten­siv­tä­ter, sie sind weder ein­deu­tig das eine, noch ein­deu­tig das ande­re. Betrach­tet man hin­ge­gen die ‚öffent­li­che Mei­nung‘ in Bre­men, so stel­len die­se Per­so­nen offen­bar durch ihre blo­ße Tat­sa­che, dass es sie als sol­che gibt, für den öffent­li­chen Umgang damit ein ernst­haf­tes Pro­blem dar.

Nur ganz weni­ge der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen sind in der Lage, sich die­ser Tat­sa­che zu stel­len und die Fak­ti­zi­tät ange­mes­sen zu berich­ten. Sie sind die gro­ße Aus­nah­me. In einer gemein­sa­men Pres­se­mit­tei­lung der Res­sorts Jus­tiz, Innen und Sozia­les heißt es, und es gibt gute Grün­de, zu unter­stel­len, dass die­ser Abschnitt vom Ver­tre­ter der Innen­be­hör­de stammt: „Eine ca. 15 Per­so­nen gro­ße Teil­grup­pe jun­ger Flücht­lin­ge fällt aber wie­der­holt durch schwe­re­re Straf­ta­ten wie unter ande­rem Kör­per­ver­let­zungs- und Raub­de­lik­te auf.” Die­se Per­so­nen­grup­pe ent­zie­he sich einer päd­ago­gi­schen Betreu­ung und unter­schei­de sich von einer ande­ren Grup­pe von ca. 30 Per­so­nen mit weni­ger schwe­ren Straf­ta­ten dadurch, dass hier bereits die Gefahr einer Ver­fes­ti­gung der kri­mi­nel­len Nei­gung bestehe. Zwar wird auch hier der Begriff ‚Inten­siv­tä­ter‘ ver­mie­den‘, aber alle sach­li­chen Hin­wei­se wei­sen ein­deu­tig dar­auf hin.

Von zahl­rei­chen ande­ren öffent­li­chen Ver­laut­ba­run­gen poli­ti­scher Funk­ti­ons­trä­ger sind dage­gen Töne zu hören, die ein mas­si­ves Pro­blem mit der Fak­ti­zi­tät als sol­cher erken­nen las­sen. So ver­kün­det ein Ver­tre­ter der Sozi­al­be­hör­de auf einer öffent­li­chen poli­ti­schen Ver­an­stal­tung, bei den Straf­ta­ten die­ser ‚Inten­siv­tä­ter‘ han­de­le es sich über­wie­gend um Kava­liers­de­lik­te wie Schwarz­fah­ren, ein loka­ler ‚SPD-Fürst‘ qua­li­fi­ziert die ’schwe­ren Straf­ta­ten‘ als ‚dum­mes Zeug‘, so etwas wie ‚dum­me Jun­gen Strei­che‘, wor­un­ter man sich allen­falls das Steh­len von Nach­bars Kir­schen, aber wohl kaum das Töten eines ande­ren Men­schen vor­stel­len kann, und ein Drit­ter, dies wie­der­um ein Ver­tre­ter der Sozi­al­be­hör­de, ver­wan­delt gleich Tat­sa­chen in bekämpf­ba­re Ansich­ten und cha­rak­te­ri­siert Poli­zei­be­rich­te als ‚Dämo­ni­sie­rung von Jugend­li­chen‘. Eil­fer­tig sekun­diert von Medi­en, die über das Niveau par­tei­po­li­ti­scher Ver­laut­ba­rungs­or­ga­ne kaum noch hin­aus­kom­men, wird es dann gera­de­zu gro­tesk in einem Schrei­ben der Sozi­al­be­hör­de an ‚Lie­be Anwoh­ner‘. Hier wird jene spe­zi­el­le Grup­pe der Inten­siv­tä­ter-Flücht­lin­ge fol­gen­der­ma­ßen dargestellt:

Wir machen sehr gute Erfah­run­gen mit die­sen Jugend­li­chen. Vie­le sind klug,
spre­chen meh­re­re Spra­chen und sind es gewohnt, sich in grö­ße­ren Gruppen
zu bewe­gen. Die weit­aus meis­ten sind ehr­gei­zig und wol­len etwas aus sich
und ihrem Leben machen, sie sind kon­takt­freu­dig und ver­fü­gen über
aus­ge­präg­te sozia­le Kom­pe­ten­zen. Sie wol­len ein bes­se­res Leben
und einen Platz in unse­rer Gesell­schaft.

Um die­ses roman­ti­sche Bild voll­stän­dig zu machen, fehlt eigent­lich nur noch der Hin­weis, dass die Jugend­li­chen Gei­ge oder Kla­vier spie­len, zu Weih­nach­ten im Chor sin­gen und Gedich­te der deut­schen Klas­sik in feh­ler­frei­em Deutsch rezi­tie­ren. Weil man aber den ande­ren Aspekt nicht voll­stän­dig igno­rie­ren kann, heißt es weiter:

Ande­re aber haben einen beson­ders schwe­ren Lebens­weg hin­ter sich. Sie haben sich ohne Unter­stüt­zung durch­schla­gen müs­sen und dabei teil­wei­se Ver­hal­tens­wei­sen ent­wi­ckelt, die für ihr Über­le­ben auf der Flucht not­wen­dig waren, die wir in unse­rer Gesell­schaft aber nicht tole­rie­ren.“

Die Sozi­al­be­hör­de optiert hier für die Ein­deu­tig­keit eines Flücht­lings, dem jeg­li­che Inte­gra­ti­ons­bar­rie­ren, die schon von sei­nem blo­ßen Anders­sein her­rüh­ren, weg­re­tu­schiert wer­den und des­sen kri­mi­nel­ler Aspekt als sekun­där und abhän­gig her­ab­ge­stuft wer­den muss. Der Flücht­ling sei nur kri­mi­nell, solan­ge er Flücht­ling ist, sobald er ange­kom­men und ent­spre­chend will­kom­men gehei­ßen, ver­lie­re sich sei­ne Kri­mi­na­li­tät qua­si wie von selbst. Mit die­ser Über­tra­gung einer poli­ti­schen Fra­ge in den Bereich des Mora­li­schen wird zual­ler­erst der Zublick auf die Sache ver­stellt. Aus kon­kre­ten Flücht­lin­gen (Plu­ral) wird das her­ge­stell­te, abs­trak­te Bild des sin­gu­lä­ren Flücht­lings (‚image making‘), es schiebt sich zwi­schen den Betrach­ter und die Wirk­lich­keit, aber das Bild ver­deckt nicht nur, es ver­nich­tet, es geht um weit mehr als nur Pro­pa­gan­da. Mit die­ser gewalt­sa­men Ver­eindeu­ti­gung über­lässt die Sozi­al­be­hör­de den dadurch aus­ge­blen­de­ten Bereich den ande­ren, die sie gleich­zei­tig mit Ihrem abs­trak­ten Bild und einer zuge­hö­ri­gen mora­lisch zwin­gen­den Vor­schrift kon­fron­tiert. Das Zwang­haf­te ruft den Wider­spruch regel­recht her­vor. Ein Teil der Anwoh­ner, denen Jugend­li­che aus die­ser spe­zi­el­len Grup­pe in einer wenig bür­ger­freund­li­chen Geheim­ope­ra­ti­on vor die Nase gesetzt wer­den, fühlt sich über­gan­gen und belo­gen, es ent­steht spon­tan eine Face­book Grup­pe, die in weni­gen Tagen auf über 2500 Mit­glie­der anwächst - sie pro­tes­tie­ren laut­stark und vehe­ment und wol­len die Unter­brin­gung von ‚Inten­siv­tä­tern‘ vor Ihrer Haus­tür ver­hin­dern. Wie von selbst fokus­sie­ren sie sich auf den Aspekt des Kri­mi­nel­len, ob es auch Flücht­lin­ge sind, spielt wie­der­um in ihrer Per­spek­ti­ve kei­ne Rol­le. Die spie­gel­bild­li­che Aus­blen­dung von Fak­ti­zi­tät führt zu wei­te­ren Spi­ra­len der Ent­fer­nung von der Sache, um die es ursprüng­lich ging. Die mora­lisch-mono­lo­gi­sche Struk­tur einer gewalt­sam auf­tre­ten­den Gesin­nungs­wahr­heit ver­schließt sich gegen­über der Wirk­lich­keit und spal­tet die Anwoh­ner­schaft in Gut und Böse - der Riss geht mit­ten durch Fami­li­en und Nach­bar­schaf­ten. Von einem auf den ande­ren Tag spre­chen Men­schen nicht mehr mit­ein­an­der, die seit Jah­ren sta­bi­le Nach­bar­schaf­ten gepflegt hat­ten - der dane­ben ist jetzt das feind­li­che Gegen­über. Man muss sich jetzt ent­schei­den, auf wel­cher Sei­te man steht. Der Ruf des Schlacht­fel­des zieht exter­ne Glau­bens­krie­ger an. Unbe­hel­ligt von den Kräf­ten, die für die Auf­recht­erhal­tung der inne­ren Ord­nung sor­gen soll­ten, denun­ziert ein links­ra­di­ka­ler Gesin­nungs­mob besorg­te Anwoh­ner als rech­te Ras­sis­ten und ter­ro­ri­siert in bes­ter SA-Manier Geschäfts­in­ha­ber, die Unter­schrif­ten­lis­ten aus­le­gen. Aus einer ursprüng­lich poli­ti­schen Fra­ge eines ange­mes­se­nen Umgangs mit nicht ein­deu­ti­gen, kon­flikt­haf­ten Per­so­nen ent­steht in einer mehr­stu­fi­gen Dyna­mik inner­halb weni­ger Tage und Wochen eine Gesin­nungs­schlacht mit Bür­ger­kriegs­at­mo­sphä­re. Es kur­sie­ren Gerüch­te von Molo­tow-Cock­tails - die Poli­zei muss vor Ort mas­si­ve Prä­senz zei­gen. Spä­tes­tens jetzt erlie­gen auch die Medi­en, deren Auf­ga­be der Bericht wäre, der Abwärts­spi­ra­le und ver­fal­len den anti­fa­schis­ti­schen Reflexen.

Die schlich­te Tat­sa­che, dass eine ganz bestimm­te Grup­pe von Jugend­li­chen, die jeweils einen Namen, eine Her­kunft, eine erzähl­ba­re Geschich­te, jeweils kon­kre­te, genau bestimm­ba­re Straf­ta­ten, ein Anrecht auf ange­mes­se­nes Urtei­len, sowohl im poli­ti­schen als auch im juris­ti­schen Sinn haben, spielt kei­ner­lei Rol­le mehr - die Fak­ti­zi­tät als sol­che ist durch ein orga­ni­sier­tes, öffent­li­ches Lügen ver­nich­tet - mit ihr ver­sinkt eine gemein­sa­me Welt im Abwärts­stru­del. Aus den kon­kre­ten Per­so­nen, die dem öffent­li­chen Raum des Urtei­lens ent­zo­gen wer­den, wird die Gestalt des Flücht­lings, die zur Vor­stel­lung des Guten dient. Das Phä­no­men ist nicht auf Bre­men beschränkt, man kann es der­zeit häu­fi­ger beob­ach­ten. Aber es steht weit mehr auf dem Spiel, als ein bloß mora­li­sches ‚Du sollt nicht lügen‘.

Wir betrach­ten es als selbst­ver­ständ­lich, dass der Bereich der Macht­po­li­tik durch die Lüge ver­un­rei­nigt ist und zie­hen uns daher ger­ne auf eine davon unbe­rühr­te, mora­lisch inte­gre, erha­be­ne Hal­tung zurück, deren poli­ti­sche Ohn­macht zuguns­ten eines Gewinns an gefühl­ter Erha­ben­heit wir in Kauf neh­men. Die mora­li­sche Vor­schrift ‚Du sollst nicht lügen‘ ver­ste­hen wir als Anwei­sung an uns selbst, ihre Über­wa­chung besorgt unser eige­nes Gewis­sen, mit dem wir bei Bedarf in einen, nach außen zu den ande­ren hin stil­len, inne­ren Dia­log tre­ten. Han­nah Are­ndt ver­schiebt jedoch gleich zu Beginn ihres Tex­tes von 1964 ‚Wahr­heit und Poli­tik‘ Stand­ort und Per­spek­ti­ve und fragt nicht nach der Wür­de des­je­ni­gen, der im Zwie­ge­spräch mit sich selbst ist (das wäre die sokra­ti­sche Fra­ge, an der so man­cher aus der hie­si­gen Are­ndt Gemein­de mit erstaun­li­cher Vehe­menz fest­hält), son­dern nach der Wür­de des poli­ti­schen Bereichs einer­seits und der Wür­de der Wahr­heit in die­sem Bereich ande­rer­seits, nach dem, was eine gemein­sa­me, mit ande­ren geteil­te Welt, die ein­zig uns Sterb­li­chen Halt gibt, aus­macht. Ent­lang der Spal­tungs­li­nie des Kon­flikts zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik, der wie ein Fluch auf unse­rer Geschich­te las­tet, öff­net Sie den Bereich des Poli­ti­schen durch eine Rei­he grund­le­gen­der Unter­schei­dun­gen: mathe­ma­ti­sche, wis­sen­schaft­li­che und phi­lo­so­phi­sche Wahr­hei­ten ord­net sie den Ver­nunft­wahr­hei­ten zu, wäh­rend die Tat­sa­chen­wahr­hei­ten dem poli­ti­schen Bereich ange­hö­ren. Die­se Zuord­nung wird durch ent­spre­chen­de Gegen­satz­paa­re erwei­tert: wis­sen­schaft­li­che Wahr­heit ver­sus Irr­tum, phi­lo­so­phi­sche Wahr­heit ver­sus Illu­si­on oder Mei­nung, poli­ti­sche Tat­sa­chen­wahr­heit ver­sus orga­ni­sier­ter Lüge. An der Fra­ge, wel­chen Gefah­ren die jewei­li­ge Art der Wahr­heit im poli­ti­schen Bereich aus­ge­setzt ist, bemerkt Sie über­rascht, dass aus­ge­rech­net bei der Art von Wahr­heit, die von allen Wahr­hei­ten am meis­ten gefähr­det ist, der Tat­sa­chen­wahr­heit näm­lich, die Fra­ge, wodurch sie gefähr­det wird, bis­lang kaum beach­tet wur­de. „Tat­sa­chen ste­hen immer in Gefahr, nicht nur auf Zeit, son­dern mög­li­cher­wei­se für immer aus der Welt zu verschwinden“(S.331), wäh­rend „von Pla­to bis Hob­bes das orga­ni­sier­te Lügen … nir­gends als eine wirk­sa­me Waf­fe gegen die Wahr­heit auch nur erwähnt wird“ (S.332).

Wie so häu­fig bei Han­nah Are­ndt, kommt Hoch­be­deut­sa­mes eher bei­läu­fig, in einem Neben­satz, einer hin­ge­wor­fe­nen Bemer­kung, gar nicht mit gro­ßem Tam-Tam, son­dern ganz unschein­bar daher - man kann es, wenn man zu unauf­merk­sam ist, leicht über­le­sen, zumal in einer Kul­tur, wel­che die Selbst­be­wich­ti­gung ins Zen­trum ihrer Auf­merk­sam­keit stellt, dem war­ten­den Hören jedoch nur noch gerin­ge Beach­tung schenkt. Han­nah Are­ndt führt eine Figur ein, die wir in einer gewis­sen Vor­läu­fig­keit den ‚Halt­su­cher‘ nen­nen wol­len. Die Figur ver­weist dar­auf, dass die Phi­lo­so­phie sich einer Kri­sen­ant­wort ver­dankt, womit ihr Dia­log unter abge­son­der­ten Aus­er­wähl­ten wie­der auf das bezo­gen wird, wovon er sich abson­dert, jenem ste­ti­gen Fluss der Ver­än­de­run­gen, dem, je nach Aus­maß der Kri­sen­er­fah­rung, von irgend­wo­her etwas Halt­ge­ben­des abge­run­gen wer­den muss, was aus Sicht der ent­ste­hen­den Phi­lo­so­phie ein ima­gi­nä­res Ver­hält­nis des Phi­lo­so­phen zu sei­ner Phan­ta­sie wer­den wird, dem Bereich der Sterb­li­chen ent­zo­gen schaut eine eigens dazu erfun­de­ne unsterb­li­che See­le die unver­än­der­li­che Wahr­heit der gött­li­chen Din­ge. Erst die in jüngs­ter Zeit ver­schie­dent­lich voll­zo­ge­ne Hin­wen­dung zu müt­ter­li­chen Aspek­ten hat uns gelehrt, in jenem Ver­hält­nis auch die dem Leben ent­zo­ge­ne Fried­hofs­at­mo­sphä­re zu bemer­ken. Die Ent­ste­hung der phi­lo­so­phi­schen Wahr­heit ver­dankt sich einer radi­ka­len Abwer­tung jeg­li­cher Mei­nung, was die ‚eigent­li­che poli­ti­sche Schär­fe des Kon­flikts‘ zwi­schen Wahr­heit und Poli­tik aus­macht, denn die­ser Kon­flikt ist zunächst ‚an der Ver­nunft­wahr­heit aus­ge­bro­chen‘, was sei­ne Bedeu­tung für die Tat­sa­chen­wahr­heit lan­ge ver­deckt hat. Erst nach­dem alle Ver­su­che, von die­ser phi­lo­so­phi­schen Wahr­heit aus die mensch­li­chen Ange­le­gen­hei­ten zu sta­bi­li­sie­ren, im Ter­ror oder der Tyran­nei geen­det sind (Denk­ta­ge­buch I, S.253), wird der Blick wie­der frei­er. Muss der Halt­su­cher tat­säch­lich, von allen abge­wandt, in die Wüs­te flüch­ten, um in sei­ner Phan­ta­sie das wie­der­zu­fin­den, was er unter Sei­nes­glei­chen ver­lo­ren glaubt?

Tat­sa­chen­wahr­hei­ten eig­net, obwohl sie stets der Gefahr unter­lie­gen, in Mei­nun­gen trans­for­miert und damit der Belie­big­keit aus­ge­setzt zu wer­den, eine gewis­se ‚unbe­weg­li­che Hart­nä­ckig­keit, die durch nichts außer der glat­ten Lüge erschüt­tert wer­den kann‘, wie Han­nah Are­ndt mit einem Hin­weis auf ein Bon­mot des von ihr sehr geschätz­ten Cle­men­ceau betont: ‚Bel­gi­en ist nicht in Deutsch­land ein­ge­fal­len‘, was auch immer man für eine Mei­nung zu den Fra­gen der Kriegs­schuld am Ers­ten Welt­krieg haben kann. Die­se Hart­nä­ckig­keit sorgt für eine gewis­se Bestän­dig­keit, für etwas, das durch den Gemein­sinn der Vie­len, die ein­fach nur sagen, was ist, in der Zeit gehal­ten wer­den kann und damit eine Wür­de erlangt, die es mit jener sta­bi­li­sie­ren­den Funk­ti­on des Unver­än­der­li­chen, an dem sich die Phi­lo­so­phie ori­en­tiert, durch­aus auf­neh­men kann. Wäh­rend der Phi­lo­soph, „der Wahr­heits­su­cher und -sager nur als Ein­zel­ner mit Ein­zel­nen exis­tie­ren kann“ (S.335), fühlt sich der Halt­su­cher poli­tisch unter Sei­nes­glei­chen am wohls­ten, aller­dings ist der Kon­flikt damit noch längst nicht bei­gelegt, son­dern hängt an der Fra­ge, wor­auf der Sinn der Gleich­ge­sinn­ten sich rich­tet, ist doch die poli­ti­sche Ver­su­chung, gera­de aus der unwill­kom­me­nen Tat­sa­chen­wahr­heit eine blo­ße Mei­nung zu machen, allgegenwärtig.

Die Tat­sa­che benö­tigt, um Wirk­lich­keit für den Gemein­sinn zu wer­den, den Zeu­gen, jenen bericht­erstat­ten­den Boten, der sie wahr­neh­mend in die Welt der Sterb­li­chen über­trägt. Fes­tig­keit und Sta­bi­li­tät aber erlangt eine sol­che Welt erst mit der zuneh­men­den Anzahl derer, die die­sen Sinn tei­len und die Wür­de der Tat­sa­chen­wahr­heit gegen jeden Ver­such einer lügen­haf­ten Ver­nich­tung verteidigen.

Es geht ja um den Bestand der Welt und kei­ne von Men­schen erstell­te Welt, die dazu
bestimmt ist, die kur­ze Zeit­span­ne der Sterb­li­chen in ihr zu über­dau­ern, wird diese
Auf­ga­be je erfül­len kön­nen, wenn Men­schen nicht gewillt sind, das zu tun, was
Hero­dot als ers­ter bewusst getan hat - näm­lich … das zu sagen was ist.“ (S.329)

Die Frei­heit der Tat­sa­chen, sein zu kön­nen, was sie sind, hängt an der Wahr­neh­mung der­je­ni­gen, die sie so sein las­sen und ihre Wür­de respek­tie­ren, wodurch ihre Wür­de mit der Wür­de des poli­ti­schen Bereichs als sol­chem direkt ver­knüpft ist, denn die Tat­sa­chen­wahr­heit „gibt der Mei­nungs­bil­dung den Gegen­stand vor und hält sie in Schran­ken.“ (S.343, Her­vorh. von mir, BB) Die­se ganz eigen­ar­ti­ge ‚Kraft des Wirk­li­chen‘ sta­bi­li­siert den poli­ti­schen Raum als sol­chen und ver­leiht ihm erst jene Bestän­dig­keit und Sicher­heit, ohne den so etwas wie Mei­nungs­frei­heit eine rei­ne Far­ce wäre. „Frei­heit und Lüge schlie­ßen ein­an­der aus“, so Mari­an­ne Birth­ler kürz­lich in einem Bei­trag über 25 Jah­re Mauerfall.

Das Wirk­li­che gibt dem Mei­nungs­streit sei­ne Grund­la­ge, sei­ne Bin­dung und sei­ne Begren­zung, sofern es lehrt, sich mit dem, was sich so und nicht ande­res ereig­net hat, auch wenn es sich jeder­zeit hät­te anders ereig­nen kön­nen, abzu­fin­den. Wäh­rend die phi­lo­so­phi­sche Wahr­heit ver­ein­zelt, die Gesin­nungs­wahr­heit spal­tet, ver­sam­melt die Tat­sa­chen­wahr­heit. Als Sache, um die es geht, öff­net und begrenzt Sie den Raum dar­um her­um eben­so, wie sie das Spiel­feld öff­net und ein­hegt für das, was auf dem Spiel steht.

Wird die­se für das Leben in einer gemein­sa­men Welt ele­men­ta­re Bin­dung durch öffent­li­ches, orga­ni­sier­tes Lügen durch­trennt, gerät man unwei­ger­lich auf die schie­fe Bahn und damit schnell ins Boden­lo­se. Man ver­liert genau jene Ori­en­tie­rung, die dann durch ein erfun­de­nes Freund/Feind Sche­ma ima­gi­när erst wie­der kon­stru­iert wer­den muss. Von Repor­tern aus Kriegs­ge­bie­ten kennt man den Satz: Das ers­te Opfer des Krie­ges ist die Wahr­heit. Das gilt nicht nur für Krie­ge, die mit Kano­nen aus­ge­foch­ten wer­den, son­dern auch für sol­che, die mit der Gesin­nung als Waf­fe aus­ge­tra­gen wer­den. Nicht nur in die­sem Fall ist die Gefähr­dung, die von der fak­ti­schen Wirk­lich­keit aus­ging, weit­aus gerin­ger, als der Scha­den, der durch das orga­ni­sier­te öffent­li­che Lügen ange­rich­tet wurde.