Der Film ent­hält zwei­fel­los eine Rei­he beein­dru­cken­der Sze­nen, so die aus dem Gerichts­saal in Jeru­sa­lem, in denen auf der einen Sei­te israe­li­sches Doku­men­ta­ti­ons­ma­te­ri­al vom Pro­zess genutzt wird und man den tat­säch­li­chen Adolf Eich­mann in sei­nem Glas­kas­ten sieht und hört und auf der ande­ren Sei­te eine gespiel­te Han­nah Are­ndt, die ange­strengt und vol­ler Erstau­nen bemerkt, dass ihre Vor­stel­lun­gen von Eich­mann über­haupt nicht mit dem zusam­men pas­sen, was sie da sieht und hört.

Anders als Hegel, der gesagt haben soll, wenn der Gedan­ke nicht zur Wirk­lich­keit passt, umso schlim­mer für die Wirk­lich­keit, ist für Are­ndt vor­ran­gig, was sie da auf- und wahr­nimmt. Etwas in die Wahr neh­men, etwas von dem, was als Wirk­li­ches von sich aus ent­ge­gen kommt, in die Obhut neh­men, das sind die Asso­zia­tio­nen, die sie von Heid­eg­ger gehört hat, denn wenn die Wirk­lich­keit nicht zum Den­ken passt, dann - in einer Kehrt­wen­dung gegen Hegel und das gesam­te Chris­ten­tum - ist der Mensch das Pro­blem, nicht die Wirk­lich­keit. Die­ser so nor­ma­le, mit­tel­mä­ßi­ge Eich­mann, die­ser gedan­ken­lo­se, fast lächer­li­che Büro­krat, wie wir ihn zu Tau­sen­den in jeder Anstalt fin­den, er passt so gar nicht zu der Mons­tro­si­tät des Ver­bre­chens, an dem er betei­ligt war.

Auch die Schluss­sze­ne, Are­ndts Vor­stel­lungs- und Ver­tei­di­gungs­re­de im Hör­saal - sind wir nicht beein­druckt von der unab­hän­gi­gen, sou­ve­rä­nen Hal­tung die­ser muti­gen Frau, die sich von all der Medi­en­hys­te­rie nicht beein­dru­cken lässt, die stark und selbst­be­wusst ihren Weg gegen alle Wider­stän­de geht und selbst in Kauf nimmt, dass lang­jäh­ri­ge Freun­de sich von Ihr abwen­den. So wären wir doch alle ger­ne, wenn wir es nur könnten.…

Es dau­ert ein wenig, bis sich die ers­ten Zwei­fel regen, dass etwas nicht stimmt an die­sem Film. Heid­eg­ger legt man an einer Stel­le in den Mund, dass Den­ken etwas mit Ein­sam­keit zu tun haben soll und so sieht man dann Han­nah Are­ndt häu­fig allei­ne, allei­ne am Schreib­tisch, allei­ne rau­chend auf der Couch, allei­ne im Land­haus im Wald. Im Gespräch mit Gleich­ran­gi­gen sieht man die Are­ndt eher sel­ten, wenn, dann fast nur bei­läu­fig. Doch Ein­sam­keit ist ein unpo­li­ti­sches, christ­li­ches, genau­er mono­the­is­ti­sches Phä­no­men. Pla­ton ver­lies ‚in voll­kom­me­ner Ver­ein­ze­lung‘ die ange­ket­te­ten Men­schen in der Höh­le, Moses ging ganz allei­ne auf den Berg und kam mit den Zehn Gebo­ten in Stein geschla­gen als Ver­kün­der einer von da an unbe­zwei­fel­ba­ren Gewiss­heit wie­der und Ech­na­ton war eben­so allein, als ihn die Vor­stel­lung des neu­en Mono-Got­tes Aton über­mann­te, von den vie­len Pro­phe­ten, die erst allei­ne in irgend­ei­ner Wüs­te sich die Wahr­heit abge­hun­gert haben, gar nicht zu reden.

Sokra­tes hin­ge­gen war in dem Bild, das sich von ihm über­lie­fert hat, nie allei­ne - und auch nicht hung­rig. Sokra­tes war immer im Gespräch, auf dem Markt­platz mit zufäl­lig vor­bei­kom­men­den Athe­ner Bür­gern, zuhau­se oder im Gast­haus zusam­men mit vie­len ande­ren. Was von Sokra­tes über­lie­fert ist, fin­det im Modus eines Gesprächs statt. Man sitzt zusam­men, isst etwas, trinkt einen mit viel Was­ser ver­dünn­ten Wein und unter­hält sich über die Din­ge, die alle etwas angehen.

Wenn die Film Are­ndt dis­ku­tiert, dann eher gegen ande­re, sel­ten mit ihnen um etwas, was erst noch her­vor­kom­men könn­te. Meh­re­re Sze­nen zei­gen die Dis­kus­sio­nen in und mit der Fami­lie Blu­men­feld in Jeru­sa­lem, doch die­se Dis­kus­sio­nen sind nie ein Gespräch, schon gar kein phi­lo­so­phisch oder poli­ti­sches, sie zei­gen Are­ndt mit dem - meis­tens ver­geb­li­chen - Ver­such , die ande­ren von Ihrer Mei­nung zu über­zeu­gen. Auch die Sze­nen in ihrer Woh­nung: es ‚dis­ku­tiert‘ Hein­rich und auch dort geht es um ein Gegen­ein­an­der - Hein­rich Blü­cher gegen Hans Jonas. Obwohl Han­nah Are­ndt zu den weni­gen poli­ti­schen Den­ke­rin­nen gehört, die sich bes­tens in der grie­chisch-römi­schen Anti­ke aus­ken­nen, kommt in dem gan­zen Film das, was sowohl die poli­ti­schen Grie­chen als auch die repu­bli­ka­ni­schen Römer unter einem Gespräch ver­stan­den, nir­gend­wo vor. War­um eigent­lich nicht?

Einer der Anknüp­fungs­punk­te von Heid­eg­gers Medi­ta­tio­nen ist der Begriff Wahr­heit. Heid­eg­ger über­setzt das grie­chi­sche Wort alet­heia mit Un-Ver­bor­gen­heit und inter­pre­tiert zunächst ganz im Sin­ne der Auf­klä­rung über die Licht­me­ta­pher Wahr­heit als etwas, was ans Licht gebracht wird, der Mensch holt sie aus der Ver­bor­gen­heit her­vor, er deckt auf, er stellt das Objekt, den Gegen­stand ins Licht. All­mäh­lich ver­schie­ben sich die Gewich­te. Heid­eg­ger zwei­felt immer mehr an den Men­schen, die Wahr­heit machen, Wahr­heit her­stel­len. Die Wis­sen­schaft denkt nicht, sagt er, weil Wahr­heit als Gewiss­heit her­stel­len etwas ande­res ist, als Wahr­heit in Frei­heit von sich aus her­vor­kom­men las­sen. Der Mensch zerrt jetzt ans Licht, er ent­reißt mit dem Expe­ri­ment der Natur ihr Geheim­nis, er ent­larvt, er zieht den Schlei­er her­un­ter, er jagt der Wahr­heit hin­ter­her, der Hund stellt das Wild, der Schuss tötet es. Auf­klä­rung ver­knüpft sich mit Gewalt. Die moder­ne Natur­wis­sen­schaft über­nimmt von der mono­the­is­ti­schen Reli­gi­on die Vor­stel­lung von Wahr­heit als Gewiss­heit. Wahr ist das, was sich wie­der­ho­len lässt, was unab­hän­gig von Ort und Zeit, von Spra­che und Kul­tur sei­ne Gül­tig­keit behält und Sicher­heit verspricht.

Auch die kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gien ver­trau­ten völ­lig auf die Gewiss­heit, dass der geschicht­li­che Ver­lauf nur eine Rich­tung und ein Ziel kennt. Sozia­lis­mus in sei­nem Lauf hal­ten weder Ochs noch Esel auf, so die Kurz­fas­sung von Erich, dem Dum­men. Gewiss­heit ist ein Phä­no­men, das erst mit dem Mono­the­is­mus in die Welt kommt, die geof­fen­bar­te Wahr­heit ist zugleich die ent­mensch­lich­te Wahr­heit, denn Offen­ba­rung fin­det nicht vor einem Publi­kum, auf offe­ner Büh­ne statt, es ist kei­ne anti­ke Tra­gö­die, die vor dem ver­sam­mel­ten Volk im Thea­ter auf­ge­führt wird, es ist ein ein­sa­mer, von den ande­ren getrenn­ter Mensch, dem etwas offen­bart wird, das er dann, zu den ande­ren zurück­keh­rend, als neue Gewiss­heit ver­kün­det. Den ande­ren etwas ver­kün­den ist aber etwas völ­lig ande­res, als mit ande­ren über etwas spre­chen. Zwei­feln näm­lich wel­che ernst­haft an die­ser neu­en Gewiss­heit, müs­sen sie geläu­tert, ent­fernt oder umge­bracht wer­den. Der inne­re Zusam­men­hang zwi­schen mono­the­is­ti­scher Gewiss­heit und Gewalt gegen­über denen, sie sie anzwei­feln, ist fun­da­men­tal und unauflöslich.

Für die poli­ti­schen Grie­chen war Wahr­heit etwas, das in einer gesel­li­gen Run­de, wenn es beson­ders gut läuft, zwi­schen ihnen sich zei­gen und auch wie­der sich ent­zie­hen kann. Wahr­heit hat­te etwas mit der Frei­heit des Her­vor­kom­mens zu tun. Und wenn es etwas ist, was die gesel­li­ge Run­de län­ger über die Zeit ret­ten will, dann müs­sen sie es fest hal­ten. „We hold the­se truths .…“ beginnt die ame­ri­ka­ni­sche Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung. Die­se ‚Wahr­heit‘ ist nicht die inne­re Über­zeu­gung eines ein­zel­nen Ich, sie ist als mit ande­ren geteil­te an ein Wir gebun­den und an das Hal­ten, sie ist gefähr­det, denn kei­ner da drau­ßen ver­bürgt ihre Gewiss­heit, und wenn kei­ner mehr hält, dann ver­schwin­det sie wie­der und geht ver­lo­ren. Das Wir wie­der­um sind kei­ne längst Ver­stor­be­nen, es sind immer gera­de die­je­ni­gen mit­den­ken­den Mit­le­ben­den, mit denen wir zusam­men eine ‚poli­ti­cal nati­on‘ bilden.

Hin­ter der christ­lich-phi­lo­so­phi­schen Tra­di­ti­on und durch die­se hin­durch das vor­christ­li­che anti­ke Den­ken wie­der zu sei­nem Eigen­sinn ver­hol­fen zu haben, ist eine der zen­tra­len Leis­tun­gen Heid­eg­gers. Dadurch öff­net sich auch für uns neben der Haupt­li­nie der christ­lich gepräg­ten Tra­di­ti­on, deren letz­ter phi­lo­so­phi­scher Groß­meis­ter Hegel, deren letz­ter Groß­ma­cher Sta­lin war, eine häu­fig weni­ger gut wahr­nehm­ba­re Neben­li­nie einer anti­ken, repu­bli­ka­nisch-poli­ti­schen Tra­di­ti­on, die nie ganz ver­schwun­den, aber eher an der Peri­phe­rie als im Zen­trum und 89 in Ost­eu­ro­pa wie­der zum Vor­schein gekom­men ist. Are­ndt hat­te das sehr wohl ver­stan­den - von Trot­ta lei­der über­haupt nicht. Die leib­haf­ti­ge Are­ndt hät­te ver­mut­lich erfreut auf Soli­dar­nosc geant­wor­tet und auch Soli­dar­nosc war zu ihren bes­ten Zei­ten ein Wir, als es nur einer wur­de, war es cäsa­ris­tisch und nicht mehr Solidarnosc.

Frau von Trot­ta dage­gen macht aus Han­nah Are­ndt einen moder­nen Mar­tin Luther, ein ein­sa­mes Ich, das allei­ne dasteht, jeman­den, der für sei­ne inne­re Über­zeu­gung ein­steht und sagt: Hier ste­he ich und kann nicht anders, auch dann, wenn alle ande­ren etwas ande­res für rich­tig hal­ten. Luther war, wie alle Mono­the­is­ten, ein Ein­sa­mer, ihm ging es um die Gewiss­heit der Gesin­nung, er trennt die Wahr­heit nur von der Hier­ar­chie, nicht von der Gewiss­heit und so ist auch der Pro­tes­tant ein ein­sa­mer Leser in sei­ner Stu­be vor sei­nem Buch. Wahr­heit, an die inne­re Über­zeu­gung eines ein­sa­men Ich gekop­pelt, ent­zieht sich damit allem Poli­ti­schen. „Denn was immer Men­schen tun, erken­nen, erfah­ren oder wis­sen, wird sinn­voll nur in dem Maß, in dem (mit­ein­an­der) dar­über gespro­chen wer­den kann.“ (Vita Acti­va, 10). Das plu­ra­le ‚Wir‘, das die ech­te Han­nah Are­ndt nicht müde wird, immer wie­der als die Grund­be­din­gung allen poli­tisch Seins zu beto­nen, kommt in die­sem Film eben­so wenig vor, wie das Gespräch zwi­schen denen, die die­ses Wir ausmachen.

An die­ser Stel­le wird viel­leicht ein wenig deut­li­cher, was die­ser Film so fun­da­men­tal ver­fehlt: Inner­halb eines sol­chen Rah­mens, in dem es um die Gewiss­heit der inne­ren Gesinnung/Überzeugung geht, ist der Unter­schied zwi­schen Gud­run Ens­slin und Han­nah Are­ndt nicht zu ver­ste­hen aber genau die­ser Unter­schied ist die Kern­lek­ti­on des 20. Jahr­hun­derts und auch die, die Frau von Trot­ta aus der blei­er­nen Zeit längst hät­te ler­nen müssen.

Han­nah Are­ndt hat­te die Lek­ti­on schon lan­ge vor dem Eich­mann Pro­zess ver­stan­den und im Buch ‚Ele­men­te und Ursprün­ge tota­ler Herr­schaft‘ (im Orgi­nal 1951 erschie­nen) beredt davon Zeug­nis abge­legt. Es war unter ande­rem auch die­ses gewich­ti­ge Buch, das Ihre Wahr­neh­mung durch die 68-Bewe­gung blo­ckiert hat - denn dort ver­trat man die anti-faschis­ti­sche Gesin­nung. Den Streit zwi­schen anti-tota­li­tär und anti-faschis­tisch gibt es bei uns bis heu­te, und immer noch wird er nicht inner­halb einer Streit­kul­tur aus­ge­tra­gen, son­dern mehr nach dem Mot­to, wer dar­an zwei­felt, muss weg, man den­ke nur an Ernst Nol­te oder Phil­ip Jen­nin­ger. Für den­ken­de Ost­eu­ro­pä­er, wie erfri­schend anders, ist die­ser Streit schon seit Jahr­zehn­ten eine rei­ne Gespens­ter­de­bat­te. In die­ser Hin­sicht wäre eine poli­ti­sche Dif­fe­ren­zie­rung nach dem alten und dem neu­en Euro­pa durch­aus angebracht.

Bre­men, Janu­ar 2013