Zahl­rei­che Autoren erei­fern sich in den Medi­en über die Fra­ge nach Wla­di­mir Putin’s Plä­nen, Moti­ven, stra­te­gi­schen Absich­ten. Das ist man­gels ent­spre­chen­dem set­ting unge­fähr so sinn­los wie die Psy­cho­ana­ly­se längst Ver­stor­be­ner. Putin ist aber nicht Russ­land. Wer wis­sen will, wohin Russ­land strebt, könn­te statt des­sen die­je­ni­gen Rus­sen zu Wort kom­men las­sen, die an einem tat­säch­li­chen Gespräch inter­es­siert sind, selbst den­ken kön­nen und nicht nur eil­fer­tig Putins Lügen wie­der­ho­len. Von die­sen hört man jedoch deut­lich zu wenig.

Zahl­rei­che hier glau­ben, es wür­de genü­gen, mit dem Fin­ger auf das Böse zu zei­gen, weil man dann qua­si ganz wie von selbst, ohne erst jeweils im Moment zei­gen zu müs­sen, wer man ist, als das Gute dasteht. Denn wer mit dem Fin­ger zei­gen kann, ist weit genug ent­fernt von der Gegend, er braucht die Bäl­le, die For­tu­na ihm zuwer­fen könn­te, gar nicht auf­fan­gen, er braucht sich dem Wirk­li­chen gar nicht kon­fron­tie­ren, er braucht nicht nach­den­ken, und natür­lich braucht er auch nicht den Ruf zum Han­deln wahr­neh­men. Von wo aus man so zei­gen kann, ist ein unge­fähr­de­ter, siche­rer Ort. Man steht gut da.

Was steht auf dem Spiel? Vor lau­ter ängst­li­chem Hin­star­ren auf Putin ist Euro­pa ganz in den Hin­ter­grund gerückt - Euro­pa – wel­ches Euro­pa? Wel­ches Euro­pa wol­len WIR eigent­lich? Ist Euro­pa bloß ein Wort, ver­gäng­lich wie Schall und Rauch, eine geo­gra­phi­sche Bezeich­nung, die als totes Wis­sen im Lexi­kon steht, oder etwas uns Bedeu­ten­des, gar poli­tisch Bedeu­ten­des, etwas, das Lei­den­schaf­ten erweckt? Die­je­ni­gen, die hier­zu­lan­de das Wort stän­dig im Mun­de füh­ren, wol­len uns weis­ma­chen, Euro­pa wäre ganz wich­tig, es wäre der ein­zi­ge Schutz gegen einen Rück­fall in jene grau­si­gen Zei­ten, in denen sich Natio­nen bekriegt, gegen­sei­tig über­fal­len und Unmen­gen Leid über­ein­an­der gebracht haben, Euro­pa, das wäre die poli­ti­sche Lek­ti­on aus dem ver­gan­ge­nen Kata­stro­phen­jahr­hun­dert. Das klingt ver­nünf­tig – doch wo sind all die Sonn­tags­red­ner, hier und jetzt, wo Euro­pa auf dem Spiel steht? Rufen Sie etwa zum Kampf, zur Ver­tei­di­gung Euro­pas? Wo ist das Euro­pa, das noch 1936 zur Ver­tei­di­gung der Spa­ni­schen Repu­blik laut trom­mel­te – Ich höre nichts. Ich hör­te auch schon nichts, als 1995 die 8000 Bos­nia­ken abge­schlach­tet wur­den, und als die Litau­er am Fern­seh­turm in Vil­ni­us im Janu­ar 1991 14 Tote zu bekla­gen hat­ten, hör­te ich auch nichts. Schließ­lich hat­te doch unser lang­jäh­ri­ger Außen­mi­nis­ter drei Mona­te zuvor, nach­dem die Deut­schen ihre Schäf­chen ins Tro­cke­ne gebracht hat­ten, in gran­dio­ser Igno­ranz der tat­säch­li­chen Lage ver­kün­det, nun sei der Zwei­te Welt­krieg zu Ende. Für Deutsch­land viel­leicht, aber nicht für Europa.

Auch in der Regi­on Syrien/Irak, die mit dem Sykes-Picot Abkom­men eine ähn­lich kolo­ni­al-impe­ria­le Vor­ge­schich­te hat wie das Bal­ti­kum, schau­en wir drei Jah­re lang zu und wer­den erst aktiv, wenn mit der dro­hen­den Ver­nich­tung der Yesi­den unse­re gewohn­te Reli­gi­ons­krieg­wahr­neh­mung bedient wird. Dass wir im alten Euro­pa Gesin­nungs­schlach­ten kön­nen, haben wir zur Genü­ge gezeigt und zei­gen es immer noch, aber wo ist eine poli­ti­sche Wahr­neh­mung geblie­ben? Die IS offen­bart mit ihrer Medi­en­po­li­tik scho­nungs­los die Achil­les­fer­se des zivi­li­sier­ten Wes­tens - die ver­lo­ren gegan­ge­ne Fähig­keit, sich dem Wirk­li­chen kon­fron­tie­ren und es aus­hal­ten zu kön­nen. Mona­te­lang wird in der soge­nann­ten ‚Öffent­lich­keit‘, bezo­gen auf die Ukrai­ne, von der ‚dro­hen­den Kriegs­ge­fahr‘ gespro­chen, wäh­rend längst schon stin­ken­de Lei­chen auf bei­den Sei­ten abtrans­por­tiert und ver­scharrt wer­den. Man genießt die Illu­si­on und redet sich an Fest- und Jah­res­ta­gen ein, Euro­pa hät­te den Krieg besiegt, man kön­ne jetzt die Frie­dens­di­vi­den­de einstreichen. 

1994 garan­tie­ren die USA und Groß­bri­tan­ni­en im Buda­pes­ter Memo­ran­dum unter ande­rem die ‚terrri­to­ria­le Inte­gri­tät‘ (the exis­ting bor­ders) der Ukrai­ne. Im Gegen­zug ver­zich­tet die Ukrai­ne auf den Besitz von Atom­waf­fen, die sie als ehe­ma­li­ge UdSSR damals noch hat­ten. Auch Russ­land gehört zu den Garan­tie­mäch­ten. Wie­viel sol­che Garan­tien heu­te wert sind, wird in zahl­rei­chen ehe­ma­li­gen Gebie­ten des Sowjet­im­pe­ri­ums his­to­ri­sche Erin­ne­run­gen wach­ru­fen. Wel­che Kon­se­quen­zen wer­den sie aus den gegen­wär­ti­gen Erfah­run­gen zie­hen? Steht Putin auf dem Spiel?

Man muss schon sein Ohr nach Osten nei­gen, um etwas Poli­ti­sches von Euro­pa zu hören. Eine Woche vor dem 75sten Jah­res­tag des Hit­ler-Sta­lin Pak­tes, über den hier bemer­kens­wert wenig zu hören war, fand die Litaui­sche Prä­si­den­tin Dalia Gry­bau­skai­te zur Bedeu­tung des rus­si­schen Vor­ge­hens in der Ukrai­ne die Wor­te, die aus dem alten Euro­pa nicht zu hören sind: „Ich sehe das nicht nur als Gefahr für die Ukrai­ne, son­dern für die gan­ze inter­na­tio­na­le Gemein­schaft. Hier wird mit bru­ta­ler Gewalt ver­sucht, die euro­päi­sche Land­kar­te neu zu zeich­nen und die Nach­kriegs­ar­chi­tek­tur Euro­pas zu unter­höh­len.“ Es ist auch Litau­en und nicht etwa Deutsch­land, das die Dring­lich­keits­sit­zung der UN bean­tragt. Man hät­te also hören kön­nen. Man soll spä­ter nicht sagen, uns hät­te nie­mand gesagt, was auf dem Spiel steht.

Was aber ist mit dem alten Euro­pa, von dem man nichts hört? Ist etwa die EZB eine euro­päi­sche Insti­tu­ti­on oder viel­mehr eine Ver­ei­ni­gung zum Schutz kor­rup­ter poli­ti­scher Sys­te­me vor über­mä­ßi­gem Reform­druck. Ist etwa der Euro, den Mit­te­rand erzwun­gen hat, um Frank­reich vor einer über­mäch­tig wer­den­den deut­schen Volks­wirt­schaft zu schüt­zen, eine euro­päi­sche Wäh­rung? Fast über­all, wo man im alten Euro­pa hin­ter die Kulis­sen blickt, kom­men die alten Natio­na­lis­men zum Vor­schein. Ist Euro­pa ein potem­kin­sches Dorf?

Wäre Euro­pa etwas Poli­ti­sches, hät­te es ein Ver­spre­chen sein müs­sen, eines mit einer drei­fa­chen Bin­dung, eines, mit dem sich die Men­schen, die etwas ver­spre­chen, selbst bin­den, eines, mit dem sie sich an die ande­ren, denen sie etwas ver­spre­chen, bin­den und eines, mit dem sie sich zusam­men an eine gemein­sa­me Sache bin­den. Erst ein sol­ches Ver­spre­chen hät­te aus Euro­pa etwas her­vor­ge­bracht, was im Bewusst­sein aller in der Zeit­lich­keit gehal­ten wer­den muss, gera­de dann, wenn es gefähr­det und bedroht ist. Die Bal­ten wis­sen, wovon die Rede ist, sie ström­ten aus dem gan­zen Land zusam­men, um ihre öffent­li­chen Insti­tu­tio­nen vor den rus­si­schen Pan­zern zu schüt­zen. Und wir? Strö­men wir irgend­wo hin, um Euro­pa zu schüt­zen? Schon die Vor­stel­lung, dass wir unser Par­la­ment umstel­len wür­den, ist absurd - wir doch nicht!

Man hört viel von Euro­pa, wenn es um nichts Gro­ßes geht wie die Leis­tungs­be­schrän­kung von Haus­halts­ge­rä­ten oder die Krüm­mungs­gra­de von Gur­ken, wenn nur die Erre­gungs­un­kul­tur der Medi­en bedient wer­den muss, aber sobald es ernst wird, wird es immer eigen­tüm­lich still in die­sem alten Euro­pa. Wir sind müde gewor­den, müde und deka­dent. Euro­pa ist uns nichts wert. Die gar nicht weni­gen jun­gen Euro­pä­er, die zum Dschi­had auf­bre­chen, wie die gros­se Gleich­gül­tig­keit der ande­ren ver­wei­sen auf die glei­che Leer­stel­le. 68 hat den Trüm­mer­hau­fen, den es vor­ge­fun­den hat, ins Gigan­ti­sche ver­grö­ßert. Die per­ma­nen­te Eman­zi­pa­ti­on geht allem aus der Hand, was hal­ten könn­te. Was bleibt, ist Wüs­te. Wir erle­ben einen his­to­ri­schen Moment, in dem unter­schied­li­che his­to­risch-poli­ti­sche Zeit­lich­kei­ten auf­ein­an­der­tref­fen. Wir Deut­schen sind an uns selbst so kaputt, dass es noch Gene­ra­tio­nen dau­ern wird, bis wir aus die­sem Loch wie­der her­aus­kom­men. Das ‚auto­no­me Indi­vi­du­um‘ ist der Tod einer jeg­li­chen Ver­fasst­heit. Die Her­aus­for­de­rung Putins ereilt uns daher zu einem Zeit­punkt, zu dem wir poli­tisch gar nicht ant­wor­ten kön­nen - woher auch, die letz­te Mög­lich­keit, eine eige­ne ‚con­sti­tu­tio liber­ta­tis‘ zustan­de zu brin­gen, wur­de 1989 ver­passt. Jenes Etwas, für das es sich loh­nen wür­de, das Leben auf’s Spiel zu set­zen, gibt es für uns nicht. Für ande­re dage­gen schon. Vom Frei­heits­kampf der pol­ni­schen und bal­ti­schen Län­der könn­te man sich viel erzäh­len las­sen. Wir kön­nen uns also jetzt nur in die zwei­te oder drit­te Linie stel­len und uns den­je­ni­gen unter­ord­nen, die an sich selbst weni­ger kaputt sind, die ’nur‘ durch die Kor­rum­pie­rung durch ande­re kaputt gemacht wur­den, aber auf eine eige­ne Vor­ge­schich­te zurück­grei­fen kön­nen, an die sich anknüp­fen läßt.

Denn wenn Euro­pa jetzt nicht auf­wacht, es nicht fer­tig bringt, jenen Ord­nungs­rah­men gegen­über einer krie­ge­ri­schen Her­aus­for­de­rung auf­recht­zu­er­hal­ten, auf den es sich bereits 1928 mit der Äch­tung des Angriffs­krie­ges (Bri­and-Kel­logg Pakt) geei­nigt hat, ist das poli­ti­sche Euro­pa Geschich­te, bevor es über­haupt ange­fan­gen hat.


======== Web-Links zu exter­nen Bei­trä­gen, Stel­lung­nah­men zur Sache Ukraine

Auf der Web­site von Marie-Lui­se Beck (MdB) ist ein Offe­ner Brief abgedruckt:
Offe­ner Brief „Was auf dem Spiel steht: In der Ukrai­ne geht es um die Zukunft Euro­pas“

15.08.2014 - Andre­as Umland: War­um der Wes­ten die Ukrai­ne ret­ten muss, Hein­rich-Böll-Stif­tung

29.08.2014 - Anne App­le­baum: War in Euro­pa is not a hys­te­ri­cal Idea, Washing­ton Post,
deut­sche Über­set­zung von Dag­mar Schatz: Krieg in Euro­pa ist kei­ne Hys­te­rie,

31.08.2014 - Ben Judah: Arm Ukrai­ne or Sur­ren­der, New York Times

EUROMAIDAN PRESS, unab­hän­gi­ge Infor­ma­ti­ons­quel­le zu den Ereig­nis­sen in der Ukraine