In der Poli­tik kann Erzie­hung kei­ne Rol­le spie­len, weil wir es im
Poli­ti­schen immer mit bereits Erzo­ge­nen zu tun haben. Wer
erwach­se­ne Men­schen erzie­hen will, will sie in Wahrheit
bevor­mun­den und dar­an hin­dern, poli­tisch zu handeln.

Han­nah Arendt

Man muss Mari­et­ta Slom­ka wirk­lich dank­bar sein. Nie zuvor in der Nach­kriegs­ge­schich­te wur­de der aktu­el­le Zustand der öffent­lich-recht­li­chen Volks­er­zie­hungs­an­stal­ten und der Abstand zu dem, was im Grund­ge­setz „infor­ma­tio­nel­le Grund­ver­sor­gung“ genannt wird, so deut­lich sicht­bar wie in dem Inter­view mit Chris­ti­an Lind­ner nach dem Abbruch der Son­die­rungs­ge­sprä­che. Das Inter­view ist bei You­Tube ver­füg­bar. Man soll­te es sich sehr genau anse­hen. Es lohnt sich, die­sen Mei­len­stein einer fata­len Ent­wick­lung noch etwas in Erin­ne­rung zu hal­ten. Frau Slom­ka ist der­art von der Rich­tig­keit ihrer inne­ren Wahr­heit beseelt, dass alles, was Herr Lind­ner auch nur sagen könn­te, von vorn­her­ein nur falsch sein kann. An einem irgend­wie gear­te­ten Gespräch ist die ZDF-Mode­ra­to­rin zu kei­nem Zeit­punkt inter­es­siert. Lind­ners ein­zi­ge Funk­ti­on in die­sem „Inter­view“ ist es, die vor­ab schon fest­ge­leg­te Rich­tig­keit der Mode­ra­to­rin zu bestä­ti­gen. Er soll aus der Gemein­schaft der Gläu­bi­gen aus­ge­schlos­sen und als Abweich­ler vor­ge­führt wer­den. Zur Erin­ne­rung - bei Wiki­pe­dia heißt es: „Ein Inter­view ist eine Form der Befra­gung mit dem Ziel, per­sön­li­che Infor­ma­tio­nen, Sach­ver­hal­te oder Mei­nun­gen zu ermit­teln.“ Statt ‘ermit­teln’ hät­te man bes­ser for­mu­liert: zu Wort kom­men zu las­sen; ein Inter­view­ter ist nor­ma­ler­wei­se kein Ver­däch­tig­ter und gegen ihn wird nicht wegen eines Ver­bre­chens ermit­telt. Sei­ne Sicht ist, eben­so wie die Per­spek­ti­ve ande­rer mög­li­cher Gesprächs­part­ner zur Urteils­bil­dung von ele­men­ta­rer Bedeutung.

Der Ein­druck die­ses außer­ge­wöhn­li­chen Inter­views war so wider­wär­tig pene­trant, dass es eini­ge Tage dau­er­te, bis sich die ers­ten Bil­der ein­stell­ten, mit denen sich die­ses Inter­view ver­glei­chen und auf sei­ne struk­tu­rel­len Bedin­gun­gen hin ana­ly­sie­ren lässt: Zunächst fiel mir „Der Name der Rose“ und das Erschei­nen des Inqui­si­tors Ber­nar­do Gui ein, der anhand weni­ger Ele­men­te (Frau, schwar­ze Kat­ze etc.) sofort unbe­zwei­fel­bar wuss­te, wor­um es ging und jeg­li­che Fra­ge oder gar Erör­te­rung, was die­sel­ben Ele­men­te denn sonst noch bedeu­ten könn­ten, sofort als Ket­ze­rei und Wider­stand gegen die ein­zi­ge Auto­ri­tät denun­zier­te. Die Wahr­heit stand schon fest, bevor der Inqui­si­tor die Sze­ne­rie betrat. Wirk­lich­keit konn­te nicht mehr erfah­ren wer­den, sie wur­de nur nach den Ele­men­ten selek­tiert, die sich für eine Demons­tra­ti­on der vor­ab fest­ge­leg­ten Wahr­heit eig­nen. Was sich für eine Demons­tra­ti­on, die meist auf eine ent­lar­ven­de Denun­zia­ti­on hin­aus­läuft, nicht eig­net, bleibt unbe­ach­tet. Die Kon­se­quenz einer sol­chen Hal­tung: ein fort­schrei­ten­der Rea­li­täts­ver­lust. Mit dem exklu­si­ven Wahr­heits­be­sitz wird jede ande­re Per­spek­ti­ve auf das glei­che Gesche­hen, jede ande­re Deu­tung sei­nes Sinns über­flüs­sig. Wozu noch mit ande­ren spre­chen, hier wird Wahr­heit dik­tiert und sofort voll­streckt. Das Inqui­si­ti­ons­ver­fah­ren ist als Far­ce klar erkennbar.

Als zwei­te Sze­ne kam mir der Auf­tritt der Atten­tä­ter des 20. Juli 44 vor dem Volks­ge­richts­hof in den Sinn, und die Art, wie Roland Freis­ler dort mit den Ange­klag­ten umsprang. Dass deren Tun irgend­ei­ne Berech­ti­gung haben könn­te, war von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen. Seit über zwei­tau­send Jah­ren besteht eine Rechts­ver­hand­lung aus drei for­ma­len Posi­tio­nen, Ankla­ge, Ver­tei­di­gung und Urteil. Die Wahr­heit ent­steht im Ver­lauf eines gegen­sei­ti­gen Gesprächs, je nach Qua­li­tät der Betei­lig­ten irgend­wo im Zwi­schen, mal näher bei dem einen, mal näher bei dem ande­ren. Urtei­le, bei denen jedes vor­her­ge­hen­de Gespräch über­flüs­sig ist, kenn­zeich­nen nicht nur den Volks­ge­richts­hof, son­dern auch die sta­li­nis­ti­schen Schau­pro­zes­se und selbst­ver­ständ­lich auch zahl­rei­che Gerichts­ver­hand­lun­gen in der ehe­ma­li­gen DDR, deren Ergeb­nis im Polit­bü­ro vor­ab ent­schie­den wurde.

Natür­lich ist Slom­ka nicht Freis­ler und die Bun­des­re­pu­blik nicht das Drit­te Reich und man ist geneigt, der­lei ‚freie‘ Asso­zia­tio­nen als völ­lig abstrus zu ver­wer­fen. Aber war­um kamen sie mir dann ganz von selbst in den Sinn? Das gemein­sa­me Ele­ment der drei Kon­stel­la­tio­nen scheint mir das zu sein, was schon seit je den Kon­flikt zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik aus­macht: die Wahr­heit, die zwi­schen den Mei­nun­gen der Vie­len ent­steht oder die vom ver­meint­lich exklu­si­ven Besitz aus herr­schaft­lich den ande­ren dik­tier­te. Fritz Goer­gen, dem das Außer­ge­wöhn­li­che an dem Inter­view auch auf­ge­fal­len war, bezeich­ne­te es in Tichys Ein­blick als Polit-Akti­vis­mus, was in die rich­ti­ge Rich­tung geht, aber für mei­nen Geschmack noch zu kurz greift.

Wäre ein sol­ches Inter­view auch in der Regie­rungs­zeit Kohls mög­lich gewe­sen? Ich mei­ne nein. War­um nicht und was hat sich ver­än­dert? Alle Nach­kriegs­kanz­ler vor Mer­kel pfleg­ten ein dif­fe­ren­zier­tes, zuwei­len distan­zier­tes Ver­hält­nis zur Pres­se. Man hat­te sei­ne per­sön­li­che Hof­jour­nail­le, nahm aber ansons­ten die Medi­en nicht ganz so wich­tig. Die Eigen­stän­dig­keit poli­ti­scher Ent­schei­dun­gen blieb stets gewahrt. Kei­ner die­ser Kanz­ler wäre auf die Idee gekom­men, sich poli­ti­sche Vor­ga­ben von den Medi­en machen zu las­sen. Kohls Ver­ach­tung der ‚Intel­lek­tu­el­len‘ ist legen­där. Für erfah­rungs­lo­se Polit­ro­man­ti­ker und Salon­bol­sche­wis­ten hat­te er nicht viel übrig. Zudem hat­te jeder die­ser Kanz­ler eine bestimm­te Vor­stel­lung sei­ner Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz: er gab Rich­tun­gen vor. West­bin­dung bei Ade­nau­er, die Ost­ver­trä­ge bei Brandt. Selbst bei Schrö­der war der Ver­such, den Wohl­fahrts­irr­sinn wenigs­tens zu stop­pen, noch erkenn­bar. Das ändert sich mit der ers­ten Kanz­le­rin, die in der DDR sozia­li­siert wur­de. Zunächst fällt das Feh­len jeder Rich­tung auf. Mer­kel ent­wi­ckel­te kei­ne Vor­stel­lung vom Land, sei­ner geo­stra­te­gi­schen Posi­ti­on, sei­ner geschicht­li­chen Auf­ga­be. Die Fra­ge, wer Deutsch­land bezo­gen auf sei­ne Nach­barn ist und wer­den soll, wur­de weder gestellt noch dis­ku­tiert und beant­wor­tet. Was tut jemand, der nie etwas ande­res gelernt hat, als die Fra­ge der Rich­tung den Vor­schrif­ten einer domi­nan­ten Ideo­lo­gie zu ent­neh­men, wobei das pro­tes­tan­ti­sche dem sta­li­nis­ti­schen in nichts nach­steht? Sie muss eine neue Quel­le suchen, der sie die Rich­tung ent­neh­men kann. Mer­kel gab nichts mehr vor, son­dern blieb stets im Hin­ter­grund und war­te­te ab, wohin sich die Din­ge bewe­gen wer­den. Wo sie ernst­haf­ten Her­aus­for­de­run­gen gegen­über­stand, ver­lor sie kläg­lich, man den­ke nur an die Beset­zung der EZB-Spit­ze. Ihr größ­ter Feh­ler: sie hielt die ver­öf­fent­lich­te Mei­nung für die rich­tungs­wei­sen­de Quel­le, der sie sich tak­tisch wen­dig anzu­pas­sen such­te, hat­te aber kein Gespür für die ste­tig wach­sen­de Kluft zwi­schen der ver­öf­fent­lich­ten und der öffent­li­chen Mei­nung. Kohl, der regel­mä­ßig bis run­ter in die Orts- und Kreis­ver­bän­de tele­fo­nier­te, wäre dies nicht pas­siert. Er hat­te zu dem Land, das er ver­trat einen zwar ambi­va­len­ten, aber im Kern noch unzer­stör­ten Bezug.

Erst die­se Ori­en­tie­rungs- und Rich­tungs­lo­sig­keit setz­te eine Ent­wick­lung in Gang, deren vor­läu­fi­ger Höhe­punkt das Inter­view von Frau Slom­ka mar­kiert. Wie konn­te es dazu kom­men? Wie konn­ten Medi­en, die zuvor aus Sicht der Poli­tik allen­falls am Kat­zen­tisch Platz neh­men durf­ten, einen sol­chen Rang bekom­men? Ver­steh­bar ist das nur aus den Beson­der­hei­ten der DDR-Sozia­li­sa­ti­on. Über Rich­tun­gen, gar unter­schied­li­che konn­te dort weder nach­ge­dacht, noch debat­tiert wer­den und das Land stand nie zur Dis­kus­si­on. Land gab es in Polen oder Ungarn, aber nicht in der DDR. Selbst die oppo­si­tio­nel­le Kir­che in der DDR war mora­lisch, aber land­los. Rich­tung wur­de aus Mos­kau vor­ge­schrie­ben und wenn die Din­ge unklar waren, muss­te man eben solan­ge war­ten, bis Mos­kau wuss­te, wohin die Rei­se gehen soll.

Mit dem Zer­fall des Kom­mu­nis­mus ist der libe­ra­len Ord­nung eine wesent­li­che Legi­ti­ma­ti­ons­grund­la­ge abhan­den gekom­men. Fast wäre sie auf ihre inne­ren Wider­sprü­che hin befrag­bar gewor­den. Ist es nicht erstaun­lich, wie schnell mit dem Gespenst des ‚Rechts­po­pu­lis­mus‘ als neu­er inne­rer Feind ein wür­di­ger Ersatz geschaf­fen wur­de und wie vie­le schein­bar auto­no­me Indi­vi­du­en sich wider­stands­los und regel­recht begeis­tert, beseelt und beglückt für die neue Reli­gi­on ver­ein­nah­men las­sen? Es wird eine der dring­lichs­ten Auf­ga­ben nach Mer­kel sein, die aus dem Ruder gelau­fe­nen Medi­en wie­der an den Platz zurück zu ver­set­zen, der ihnen gegen­über der Poli­tik zukommt.