Der Fluch der schei­tern­den Versetzung

Der Leser wird unter der Rubrik ‚Lek­tü­ren‘ berech­tig­ter­wei­se die kom­men­tie­ren­de Lek­tü­re eines Tex­tes, eines Essays, eines Buches, kurz eines in sich abge­schlos­se­nen Text­kor­pus erwar­ten. Die­se Erwar­tung wer­den wir ent­täu­schen müs­sen. Kann man Han­nah Are­ndt so lesen? Kann man sie lesen wie jeden belie­bi­gen ande­ren Text, oder müs­sen wir uns nicht viel­mehr fra­gen: wie lesen einen Text, der als sei­ne ihn beun­ru­hi­gen­de Quel­le die Wahr­neh­mung einer Lücke, eines Bruchs, eines Abgrun­des angibt? Wie lesen einen Text, der vom Bruch der Tra­di­ti­on spricht, dies aber nur in der Spra­che die­ser Tra­di­ti­on sagen kann, denn wie jedes ande­re Spre­chen kann auch die­ses Spre­chen nicht aus der sym­bo­li­schen Dimen­si­on her­aus­sprin­gen, in die es hin­ein­ge­setzt wur­de. Ver­langt nicht ein Spre­chen wie das von Han­nah Are­ndt von uns Lesern ein ande­res Ver­hält­nis, eine ande­re Art von Sen­si­bi­li­tät gegen­über dem Text, ein ande­res Hören?

Streng genom­men ist der vor­lie­gen­de Text die Lek­tü­re eines ein­zi­gen Wor­tes, in das er sich hin­ein­schreibt. Die­ses Wort heißt Fluch. Es taucht in der ers­ten Fuß­no­te zum letz­ten Kapi­tel von Are­ndts Revo­lu­ti­ons­buch auf, und zwar in einer Meta­pher über die gesam­te abend­län­di­sche Geis­tes­ge­schich­te: „seit ‚Sokra­tes‘ Tod, hat eine an Feind­se­lig­keit gren­zen­de Span­nung zwi­schen Phi­lo­so­phie und Poli­tik wie ein Fluch auf der abend­län­di­schen Geis­tes­ge­schich­te gele­gen“. Fluch ist ein selt­sa­mes, ein außer­ge­wöhn­li­ches Wort. Man hört es kaum noch. Es ist unse­rem all­täg­li­chen Sprach­ge­brauch fast völ­lig fremd gewor­den. Zudem: es ruft Kon­tex­te her­vor, die in unse­rer auf­ge­klär­ten und voll säku­la­ri­sier­ten Zeit fast völ­lig ver­schüt­tet sind. Dadurch bil­det die­se Wort selbst eine Lücke im Text, es unter­bricht ihn in einer Wei­se, über die ein auf­merk­sa­mer Leser stol­pert. Aus die­ser Lücke her­aus kommt eine Fra­ge ent­ge­gen: Von wo aus kann man die abend­län­di­sche Geis­tes­ge­schich­te als etwas wahr­neh­men, auf dem ein Fluch las­tet? » Wo sind wir, wenn wir poli­tisch denken?

Über das Böse? - Was für ein Irrtum?

Han­nah Are­ndt hielt 1965 an der New School for Social Rese­arch in New York eine Vor­le­sung unter dem Titel: “Some Ques­ti­ons of Moral Phi­lo­so­phy.” Die Vor­le­sung wur­de von Jero­me Kohn 2003 als Teil­stück in dem Sam­mel­band “Respon­si­bi­li­ty and Jug­de­ment” her­aus­ge­ge­ben. 2007 kam die von Ursu­la Ludz besorg­te deut­sche Über­set­zung bei Piper unter dem Titel: “Über das Böse – Eine Vor­le­sung zu Fra­gen der Ethik” her­aus.

Der eigen­mäch­ti­ge deut­sche Titel ist nicht nur falsch, son­dern dar­über hin­aus poli­tisch gefähr­lich. Der ‘fal­sche’ Titel ist aber nicht nur ein­fach so, rein zufäl­lig, falsch, etwa, weil der Ver­le­ger den Text weg­ge­legt und nur sei­ne Rech­nung kal­ku­liert hat. Der fal­sche Titel ist in einem aus­ge­zeich­ne­ten, uns etwas bedeu­ten­den Sin­ne, falsch, er lässt jene Dis­kre­panz erschei­nen, auf die Zol­tán Szankay schon früh auf­merk­sam gemacht hat, und die dar­in liegt, dass man über Han­nah Are­ndt redet, sich aber gleich­zei­tig gegen den Anspruch ihres Sagens ver­schließt, ihn in einer wehr­haf­ten, siche­ren Stel­lung verwehrt.

Des­halb lege ich hier eine Lek­tü­re die­ser Vor­le­sung vor, die sich der Gefahr des Ver­le­sens aus­setzt und die man, in Anleh­nung an einen Titel von Klaus Hein­rich auch nen­nen könn­te: Von der Schwie­rig­keit, mit Han­nah Are­ndt ins Gespräch zu kommen.

Der Text ist Zol­tán Szankay gewid­met – er wäre im Mai 85 Jah­re alt geworden:
» Zwi­schen Chur­chill und Senat