Stün­de, lie­be Tagungs­gäs­te und Freun­de, die­se Tagung und die­ser Vor­trag unter einem guten Stern, so bekä­men bei­de etwas vom Cha­rak­ter einer guten Auf­merk­sam­keits­übung. Eine gute Auf­merk­sam­keits­übung hat, wie wir wis­sen, sowohl die Sei­te einer Kon­zen­tra­ti­ons­übung, wie die einer Locke­rungs-, ja Ent­span­nungs­übung. Bei­des zusam­men unter­schei­det sie wohl von einer eher ein­sei­ti­gen refle­xi­ven Anstren­gung, oder von einer, bloß Stand­punk­te klä­ren­den Dis­kus­si­on. Sie kön­nen natür­lich fra­gen, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te: Muß das sein, die­se auch noch zwie­fa­che Übung? Wäre es nicht ehr­li­cher und zweck­dien­li­cher, uns an die Nor­ma­li­tät der gewohn­ten Tagungs- und Vor­trags­form zu hal­ten? Genügt nicht eine Tagungs­form, in der poli­tisch und intel­lek­tu­ell Inter­es­sier­te mit poli­ti­schen Akteu­ren und pro­fes­sio­nel­len Poli­tik­wis­sen­schaft­lern zusam­men­kom­men, um The­sen und Erklä­rungs­mus­ter zu Gegen­warts­fra­gen vor­zu­stel­len? Über die­se könn­te man dann, mit vari­ie­ren­der Vehe­menz, aber, selbst­ver­ständ­lich, ‚offen und tole­rant‘ debattieren.

Es wäre naiv, lie­be Tagungs­gäs­te und Freun­de, zu mei­nen, wir könn­ten ganz und gar aus dem übli­chen set­ting der Tagun­gen die­ser Art her­aus­sprin­gen. Den­noch: es gibt irgend etwas an der Sache die­ser Tagung, die ja Are­ndt­sche Den­kungs­art und poli­ti­sche Gegen­warts­fra­gen auf­ein­an­der bezie­hen will, das einem eher abhan­deln­den und erklä­ren­den set­ting wider­strebt. Indem wir näm­lich Are­ndt­sche Den­kungs­art und Gegen­warts­fra­gen auf­ein­an­der bezie­hen möch­ten - und sogar so, daß sie sich gegen­sei­tig beleuch­ten - sto­ßen wir auf eine zunächst kaum wahr­ge­nom­me­ne Dis­kre­panz. Wir wer­den die­se Dis­kre­panz - in einem Arendt’schen Sinn - ver­ste­hen müs­sen, wenn die genann­te Sache die­ser Tagung ein set­ting bekom­men soll, das ihr güns­tig ist.

Vie­les spricht dafür, daß die­se Dis­kre­panz in den letz­ten Jah­ren erst rich­tig wahr­nehm­bar gewor­den ist. Nicht nur Mar­ga­ret Cano­van spricht - jetzt in ihrem zwei­ten Are­ndt-Buch - davon, daß geschicht­li­che und theo­re­ti­sche Ereig­nis­se der letz­ten zwei Jahr­zehn­te uns den Zugang zu einer Schlüs­sel­di­men­si­on des Are­ndt­schen Den­kens erleich­tert haben. Zu jener, in der die Unan­ge­mes­sen­heit der theo­re­ti­schen Zugrif­fe auf die tota­li­tä­ren Ein­brü­che unse­res Jahr­hun­derts zu einer zen­tra­len Erfah­rung wird. Zu einer Erfah­rung, die damit auch besagt: auf unse­re Theo­rie­ge­bäu­de ist beim Han­deln kein Verlass.

Von die­ser Erfah­rung her bekommt die Are­ndt­sche Wen­dung der epo­cha­len Heid­eg­ger­schen Dekon­struk­ti­on jener Begrün­dungs­on­to­lo­gien, die unse­re his­to­ri­schen und sozio­lo­gis­ti­schen Erklä­rungs­wei­sen wei­ter­hin aus­rich­ten, ihre noch kaum voll erfaß­ba­re poli­ti­sche Bedeu­tung. Es geht somit um die Dis­kre­panz zwi­schen den Ehrun­gen, in denen Han­nah Are­ndt als die her­vor­ra­gends­te poli­ti­sche Den­ke­rin des Jahr­hun­derts auf das Podest geho­ben wird, und der prak­tisch völ­li­gen Igno­rie­rung der zen­tra­len Anlie­gen ihres Den­kens in all jenen Dis­kur­sen, in denen die vor­herr­schen­den Wirk­lich­keits- und Ver­ständ­nis­wei­sen unse­rer poli­ti­schen Geschicht­lich­keit fort­ge­schrie­ben wer­den. Es ist genau die­se Dis­kre­panz, die unse­re poli­ti­schen Hand­lungs­räu­me und Hand­lungs­ho­ri­zon­te - auch inmit­ten ver­viel­fach­ter Are­ndt-Bezü­ge - gegen­über der Are­ndt­schen Den­kungs­art abdich­tet. Sie beför­dert die Selbst­ver­ständ­lich­keit mit, mit der ihr Den­ken, ver­bun­den wie kein ande­res mit dem Abbau der Dicho­to­mie von Poli­tik und Phi­lo­so­phie, immer wie­der und fast über­all ein­fach der ‚poli­ti­schen Phi­lo­so­phie‘ zuge­schla­gen wird. Aber wohin soll­te man auch das Are­ndt­sche Den­ken ein­ord­nen, solan­ge es für aus­ge­macht gilt, daß für unse­re, poli­tisch hand­lungs­re­le­van­te ‚gesell­schaft­li­che Rea­li­tät‘, letzt­lich, wenn schon nicht die ’struk­tur-erklä­ren­den‘ Dis­kur­se der ‚Poli­ti­schen Öko­no­mie‘, so doch das inter­es­sen­funk­tio­na­le Wis­sen der ‚Poli­ti­schen Sozio­lo­gie‘ oder das der Main­stream-Poli­tik­wis­sen­schaft zustän­dig sind? Und wenn, kom­ple­men­tär dazu, die Poli­ti­sche Phi­los­phie dann zustän­dig bleibt für das Wol­ki­ge der poli­ti­schen Sonn­tags­re­den und für macht­fer­ne ‚auto­no­me‘ - und eman­zi­pier­te - Öffent­lich­kei­ten inner­halb und außer­halb der ‚Glo­bal Academy‘?

Wenn nun die­se selt­sa­me Dis­kre­panz das­je­ni­ge an der Sache die­ser Tagung ist, was einer übli­chen Behand­lungs­art beson­ders wider­strebt, wie sol­len wir dann sie, die­se Dis­kre­panz ver­ste­hen? Was ‚Ver­ste­hen‘ in der Are­ndt­schen Den­kungs­art heißt, geht über das her­me­neu­ti­sche Inter­pre­ta­ti­ons­ver­ste­hen hin­aus. Es geht dar­über hin­aus zum einen, durch das, auf was sich die­ses Are­ndt­sche Ver­ste­hen vor­züg­lich bezieht. Hier­zu ist die For­mel hilf­reich, in die Ernes­to Laclau den Sinn von: ‚die gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit ver­ste­hen‘ ein­bet­tet. Sie lautet:

„To under­stand social rea­li­ty, then, is not to under­stand what socie­ty is, but what pre­vents it from being.“

Über­setzt: Gesell­schaft­li­che Wirk­lich­keit zu ver­ste­hen, heißt nicht, zu ver­ste­hen, was Gesell­schaft ist, son­dern was sie dar­an hin­dert zu sein. (d.h.: was sie dar­an hin­dert, als ein posi­tiv Sei­en­des, als eine Enti­tät - sei es nun eine Wil­len­sen­ti­tät, oder eine Struk­tur- oder Sys­tem­en­ti­tät - zu sein.) In die­se For­mu­lie­rung spielt aber auch noch eine Bedeu­tung von ‚Ver­ste­hen‘, von ‚poli­ti­schem Ver­ste­hen‘ hin­ein, gera­de wenn sie sich auf eine Art Nega­ti­vi­tät des Poli­ti­schen selbst bezieht, wie hier. Es ist die damit ver­knüpf­te Bedeu­tung von ‚kon­fron­tie­ren‘, oder genau­er: ‚kon­fron­tie­ren kön­nen‘. Eine rela­tiv frü­he For­mu­lie­rung von Han­nah Are­ndt, im eng­li­schen Vor­wort zur ers­ten Aus­ga­be der ‚Ursprün­ge und Ele­men­te tota­li­tä­rer Herr­schaft‘ hilft uns dabei, sie zu ent­de­cken. Sie heißt:

„Com­pre­hen­si­on means the unpre­me­di­ta­ted, atten­ti­ve facing up and
resis­ting of rea­li­ty - wha­te­ver it may be.“

Für auf­merk­sa­me Ohren hat die­ses ‚com­pre­hen­si­on‘, das spä­ter zu ‚under­stan­ding‘ wird, kla­re Anklän­ge zum ermög­li­chen­den und kon­fron­ta­ti­ven Daseins­ver­ste­hen des frü­hen Heid­eg­ger. Wir könn­ten den Satz also, zusam­men mit sei­nem Bedeu­tungs­hof, viel­leicht so über­set­zen: ‚Geschicht­lich-poli­ti­sches (oder geschicht­lich-exis­ten­ti­el­les) Ver­ste­hen-kön­nen heißt, die Wirk­lich­keit in einer nicht vor­kal­ku­lier­ten und vor­kal­ku­lier­ba­ren Wei­se kon­fron­tie­ren und ihr wider­ste­hen zu können.‘

Are­ndts ‚Rea­li­tät‘, als das Her­ein­bre­chen­de und das uns dra­ma­tisch For­dern­de unse­rer geschicht­li­chen ‚human con­di­ti­on‘, fällt hier fast mit dem zusam­men, was bei Ernes­to Laca­lau der nicht-posi­ti­vier­ba­re ‚Unmög­lich­keits­punkt‘ des ‚Sozia­len‘ ist. D.h. mit dem Poli­ti­schen, das der Schlie­ßung des posi­ti­ven Dif­fe­renz­sys­tems der ’sozia­len Wirk­lich­keit‘ - und sei­ner Ein­schlie­ßung in das­sel­be - widersteht.

Wie weit das Are­ndt­sche Ver­ste­hen über das theo­re­ti­sche, oder über ein Ver­ste­hen inner­halb der vita con­tem­pla­ti­va hin­aus­geht, zeigt uns eine ande­re, kurz auf­blit­zen­de Stel­le. In einem Essay aus dem Jah­re ’62 sagt Han­nah Are­ndt plötz­lich und wie unwill­kür­lich zwi­schen den Zeilen:

‚ver­ste­hen heißt immer ver­ste­hen, was auf dem Spiel steht‘

Was steht nun, lie­be Gäs­te und Freun­de, bei die­ser Dis­kre­panz auf dem Spiel? - Ich glau­be, wir haben alle schon bei einer ers­ten Beleuch­tung die­ser Dis­kre­panz bemerkt: was auf dem Spiel ste­hen könn­te ist, ob wir der Logik die­ser Dis­kre­panz fol­gen, oder ob wir sie unter­bre­chen kön­nen. Oder, kras­ser gesagt: ob wir die Are­ndt­sche Den­kungs­art, mit dem sel­ben Zug, mit dem wir sie her­vor­he­ben, mit dem wir ihre Bedeut­sam­keit unter­strei­chen, zugleich uns wei­ter vom Lei­be hal­ten, oder ob wir sie, genau da, an uns her­an­las­sen kön­nen. Aber, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, viel­leicht ist dies doch zu krass, zu ein­deu­tig gesagt. Vie­les spricht dafür, daß in die­ser Dis­kre­panz mehr steckt, als eine bloß zwei­wer­ti­ge Abwehr­lo­gik der Anerkennung/Nichtanerkennung oder eine ihrer Ver­klei­dun­gen. Vie­les spricht dafür, daß in die­ser Dis­kre­panz auch ande­re Zeit­ver­hält­nis­se unse­rer poli­ti­schen Geschicht­lich­keit arbei­ten. Das hie­ße dann: sie ist nicht nur eine Abwehr­kon­stel­la­ti­on, son­dern auch eine, in der wir ein Ver­hält­nis zu dem Nicht-Ein­ge­lös­ten oder Ver­fehl­ten in unse­rem poli­tisch-geschicht­li­chen Han­deln auf­be­wah­ren konn­ten und kön­nen. Es ist so, als ob wir, in die­ser zwei­ten Kon­stel­la­ti­on der Dis­kre­panz, mit unse­ren Are­ndt-Bezü­gen, einen Raum auf­recht­erhiel­ten, für den es in unse­rem theo­re­tisch- funk­tio­na­len Kon­zept­rah­men eigent­lich kei­nen Platz mehr gibt.

Ich muß Ihnen geste­hen, lie­be Freun­de und Tagungs­gäs­te, daß ich auf die­se hoch­be­setz­te und sen­si­ble Bezie­hungs­di­men­si­on vie­ler Men­schen aus unse­rem wei­te­ren Umkreis, zur Gestalt und zum Denk­raum Han­nah Are­ndts erst in die­sen letz­ten Wochen rich­tig auf­merk­sam gewor­den bin. Auf­merk­sam durch die Ant­wor­ten auf unse­re Are­ndt-Initia­ti­ve und durch das, was aus ihnen her­aus­zu­hö­ren war. Erst all­mäh­lich wur­de mir deut­lich, wie in einem sehr viel grö­ße­ren Kreis von Men­schen, als ich es geahnt hät­te, und der gewiß über den Kreis von Men­schen hin­aus­geht, die sich sozu­sa­gen berufs­mä­ßig mit Han­nah Are­ndt beschäf­ti­gen, die Gestalt und das ’sto­ry tel­ling‘ von Han­nah Are­ndt eine beson­de­re Bedeu­tung hat. Sie ist, unter­schwel­lig, mit dem ein­zig uns übrig­ge­blie­be­nen Frei­heits- und Tran­szen­denz­be­zug ver­bun­den, mit einem Ver­spre­chen, das gleich­zei­tig auch etwas Behut­sa­mes und Behü­ten­des an sich hat. Eine klu­ge Freun­din aus den beweg­ten Tagen des Frank­fur­ter Insti­tuts für Sozi­al­for­schung frag­te mich unlängst am Telefon:

„Weißt Du was das größ­te Pro­blem an Eurer Are­ndt-Initia­ti­ve ist?“
- Und als ich dem sokra­ti­schen Spiel gemäß mit nein geant­wor­tet habe, sag­te sie:
„Euer größ­tes Pro­blem ist, daß ihr zwan­zig Jah­re zu spät kommt.“

Ich glau­be, wir kön­nen alle aus die­sem einen Satz einer deut­schen Frau der 68-er Gene­ra­ti­on das Ent­schei­den­de in Bezug auf die Geschich­te der poli­ti­schen Nati­on der Deut­schen der letz­ten 20 Jah­re her­aus­hö­ren. Mir, lie­be Gäs­te und Freun­de, ging, wenn ich das erwäh­nen darf, nach die­sem Satz, beim Zurück­zäh­len, nicht nur die zwan­zig­jäh­ri­ge Geschich­te die­ser poli­ti­schen Nati­on, deren Bür­ger ich nun bin, durch den Kopf. Beim Zurück­zäh­len kam ich, beklom­men, genau auf die Jah­re, in denen mir nahe­ste­hen­de Frau­en und Män­ner, in Sant­ia­go und Bue­nos Aires, grau­sam umge­bracht wor­den sind, in der ant­ago­nis­ti­schen und all­seits grau­sa­men Ent­la­dung einer poli­tisch-ideo­lo­gi­schen Gegen­satz­welt. Auch dort hat die damals gleich­sam schon arbei­ten­de Are­ndt­sche Den­kungs­art nicht die gerings­te Chan­ce gehabt, ver­nom­men zu wer­den. Das, was aus der Ant­wort einer ande­ren Freun­din, die heu­te ger­ne dabei gewe­sen wäre, her­aus­klang, war von der eben refe­rier­ten nur schein­bar ver­schie­den. Ant­je Voll­mer sag­te uns:

„Leu­te, die Han­nah Are­ndt ist doch das Wert­volls­te was wir haben.
Geht mit Ihr bit­te vor­sich­tig um.“

In die­sen und ande­ren ähn­li­chen Ant­wor­ten, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, erscheint uns eine ande­re Gestalt des­sen, was ich eben als die zen­tra­le Dis­kre­panz ansprach. Die­se Gestalt hat mehr mit der Span­nung eines Dilem­mas zu tun, sowie mit einer Ver­schie­bung - Der­ri­da wür­de sagen: mit einer Dif­fe­rie­rung - die­ser Span­nung zwi­schen dem, was einer­seits die Are­ndt­sche Den­kungs­art aus unse­ren auf­leuch­ten­den poli­ti­schen Erfah-rungs­mo­men­ten als Ein­lös­ba­res bestärkt, und den hege­mo­ni­schen Rea­li­täts­prin­zi­pi­en ande­rer­seits, die die­se Momen­te nur als ver­lo­re­ne, ver­pass­te und nicht trans­mit­tier­ba­re wahr­neh­men lassen.

Dies ist hier, lie­be Freun­de und Gäs­te, die ers­te Stel­le in die­sem Vor­trag, von wo aus ich uns fra­gen möch­te: Wäre es denn denk­bar, daß wir heu­te, hier, mit der Nach­träg­lich­keit die­ser zwang­zig-jäh­ri­gen Ver­spä­tung und fünf Jah­re nach den doch so vie­les - auch rück­wir­kend - beleuch­ten­den Ereig­nis­sen des Novem­bers 89, ein Gespräch begän­nen, das viel­leicht an der Zeit ist? Ein Gespräch über die Ver­wo­ben­heit die­ser Dis­kre­panz, die­ses Dilem­mas mit unse­ren poli­tisch-geschicht­li­chen Erfah­run­gen auf der einen Sei­te, und mit den Pro­ble­men unse­rer Auf­nah­me­be­reit­schaft für die Are­ndt­sche Den­kungs­art auf der ande­ren. Das hie­ße dann auch: das Begin­nen­kön­nen eines Gesprä­ches, das die­ses Dilem­ma nicht auf­zu­lö­sen, son­dern es von sei­nen Fixie­run­gen abzu­lö­sen ver­sucht. Oder auch: es in die Öff­nungs­wei­sen der Demo­kra­ti­schen Fra­ge zu trans­fe­rie­ren, zu über­tra­gen. In wel­chem Sin­ne könn­te man nun, lie­be Freun­de und Gäs­te, sagen, daß ein Beginn eines Are­ndt­schen Gesprächs an der Zeit wäre? Wie sol­len wir dabei die ‚Demo­kra­ti­sche Fra­ge‘ ver­ste­hen? Und was könn­te die hier ange­spro­che­ne Über­tra­gung des Are­ndt-Dilem­mas in die­ser Fra­ge leisten?

Bevor ich auf die­se Fra­gen zu ant­wor­ten ver­su­che, las­sen Sie mich noch auf einen berech­tig­ten Zwei­fel gegen­über unse­rer Gewich­tung der bespro­che­nen Dis­kre­panz ein­ge­hen. Man könn­te doch, mit einer gewis­sen Berech­ti­gung, sagen: die hier cha­rak­te­ri­sier­te Dis­kre­panz ist eine Über­trei­bung. Auch hier, auf die­ser Tagung, sind doch im wei­te­ren oder nähe­ren Bereich bekann­te Inter­pre­tin­nen und Inter­pre­ten Han­nah Are­ndts mit uns - und dies trifft auf Ágnes Hel­ler eben­so zu wie auf Ernst Voll­rath, auf Wolf­gang Heu­er eben­so wie auf Karol Sau­er­land -, bei denen doch die­ses Dilem­ma nicht aus­schlag­ge­bend scheint und die doch, im Wesent­li­chen, in einer gro­ßen Are­ndt-Nähe den­ken. Las­sen Sie mich aber die Ver­mu­tung äußern, daß wir es hier wohl weni­ger mit einer gänz­li­chen Abwe­sen­heit des frag­li­chen Dilem­mas zu tun haben, als mit sei­ner sich doch durch­set­zen­den Ver­schie­bung. Das heißt: mit einer Ver­schie­bung der Schwie­rig­keit, die Are­ndt­sche Den­kungs­art in die Wahr­neh­mung unse­rer poli­ti­schen Wirk­lich­kei­ten selbst her­ein­zu­las­sen und die­se letz­te­re mit ihr zusam­men zu artikulieren.

Eine Sache ist es näm­lich, wesent­li­che Momen­te der Are­ndt­schen Den­kungs­art in eher phi­lo­so­phie- und poli­tik­ge­schicht­li­chen Dis­kur­sen mit­zu­ar­ti­ku­lie­ren, und eine ganz ande­re Sache ist es, sol­che Momen­te in Dis­kur­sen wirk­sam wer­den zu las­sen, die nicht nur einen ideo­lo­gi­schen oder theo­re­ti­schen, son­dern auch einen öffent­li­chen, poli­ti­schen Cha­rak­ter haben. Bei den letz­te­ren müß­ten die­se Momen­te nicht nur einen all­ge­mei­nen her­me­neu­ti­schen Bezug zu poli­ti­schen Fra­gen bekom­men. Sie müß­ten sich dort, wo der Bezug zu den Ver­neh­mungs­wei­sen des poli­ti­schen Gemein­sinns ent­schei­dend wird, auch gegen­über den vor­herr­schen­den poli­ti­schen Dif­fe­renz­mus­tern und Wirk­lich­keits­wahr­neh­mun­gen real behaup­ten kön­nen. Dies müß­te wesent­lich mehr impli­zie­ren, als eine rein theo­re­ti­sche oder ideo­lo­gie­be­zo­ge­ne Intervention.

Des­halb haben es dann Are­ndt-bezo­ge­ne Autoren wie Ágnes Hel­ler und Ferenc Fehér, die auch - in einem ame­ri­ka­ni­schem Sin­ne - ‚öffent­li­che Intel­lek­tu­el­le‘ sind, in die­ser Hin­sicht schwe­rer. Es ist, wie wir es noch näher sehen wer­den, so, als ob ein auch öffent­li­cher, poli­tik­na­her Dis­kurs, woll­te er ein sol­cher blei­ben, nur ein bestimm­tes Maß der Are­ndt­schen Den­kungs­art zur Wir­kung brin­gen könn­te. Die­se ist dann, hier wie dort, in ihrer Sache wie ‚ver­scho­ben‘, wie ‚dif­fe­riert‘.

Ich glau­be, der Text von Ferenc Fehér, ‚Pariah und Citi­zen‘, den Boris Bla­ha uns für die­se Gele­gen­heit über­setzt hat, ist ein gutes Bei­spiel für das Gesag­te. Ich möch­te damit sagen: es ist ein lehr­rei­ches Bei­spiel für ein bestimm­tes Ver­hält­nis von ein­ge­brach­ten und ‚ver­scho­be­nen‘ Momen­ten der Are­ndt­schen Den­kungs­art in einem hand­lungs­na­hen Dis­kurs, in dem die­se Den­kungs­art aus­schlag­ge­bend gewor­den ist. Mit ‚hand­lungs­nah‘ mei­nen wir nicht die stra­te­gi­sche oder nor­ma­ti­ve ‚Poli­tik­be­ra­tung‘, die von ‚Wis­sens­plät­zen‘ aus­geht, die sel­ber nicht auf dem Spiel ste­hen, son­dern jene ‚atten­ti­ve­ness to rea­li­ty‘, jenes wirk­lich­keits­ge­rich­te­tes Mer­ken-kön­nen, das, wie ein­mal David Lub­an über Han­nah Are­ndt sag­te, „mehr das Zei­chen eines poli­tisch Han­deln­den, als das eines Gelehr­ten ist“.

Daß sie in die­sem Fehér-Dis­kurs aus­schlag­ge­bend gewor­den ist, kön­nen wir an einem wesent­li­chen Punkt able­sen. Dort näm­lich, wo Fehér die Are­ndt­sche Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen a-poli­ti­scher Legi­ti­mie­rungs­de­mo­kra­tie und poli­tisch gegrün­de­ter Repu­blik auch noch dort pro­duk­tiv macht, wo er die­se Dif­fe­ren­zie­rung auch schon kri­tisch behan­delt. In den rein staats­le­gi­ti­mie­ren­den, wie auch in den ‚anti-staat­lich‘ und ‚basis-demo­kra­tisch‘ ori­en­tier­ten Wei­sen jener Demo­kra­tie, die sich als etwas auf den Mehr­heits­wil­len oder ‚Volks­wil­len‘ Fun­dier­tes vor­stellt, ist das ‚Gesell­schaft­li­che‘ immer schon ein geschlos­se­ner Ver­fü­gungs- und Innen­raum. Die ‚polishaf­te‘ Natur des eigent­lich Poli­ti­schen wird dabei - auch wenn sie nicht gänz­lich zum Ver­schwin­den gebracht wer­den kann - immer schon über­sprun­gen. Mit ‚Repu­blik‘ hin­ge­gen wer­den bei Han­nah Are­ndt zunächst geglück­te Neu­an­fän­ge des unab­schließ­ba­ren und plu­ra­len Frei­heits­rau­mes einer ‚poli­ti­schen Gemein­schaft‘ bezeichnet.

Dort, wo die­se Dif­fe­ren­zie­rung pro­duk­tiv wird, bricht die Selbst­ver­ständ­lich­keit der, das Poli­ti­sche ver­drän­gen­den Dicho­to­mie: ‚Staat/Bürgerliche Gesell­schaft‘ auf. Die­se hege­mo­ni­siert, beson­ders das euro­pä­isch-kon­ti­nen­ta­le Den­ken auch noch dort, wo sie in schein­bar ganz ande­ren Gestal­ten auf­tritt. (Z.B.: in den genau so poli­tik­ver­drän­gen­den Gestal­ten der - eine posi­ti­ve Total­be­schrei­bung des Sozia­len impli­zie­ren­den - Dicho­to­mie: ‚System/Lebenswelt‘.)

Der letz­te Abschnitt die­ses Fehér-Tex­tes ist der über ‚Die Poli­tik der Sterb­li­chen‘. Fehér nimmt die­sen Begriff von Rei­ner Schür­mann auf (vom unlängst ver­stor­be­nen Den­ker der New-Yor­ker New School, der in Ame­ri­ka viel­fach rezi­piert, in Deutsch­land eisern igno­riert wird), der ihn auf eine ent­schei­den­de Dimen­si­on des Heid­eg­ger­schen Den­kens bezieht. Die ‚Sterb­li­chen‘ - bei Mar­tin Heid­eg­ger immer im Plu­ral, wie es Han­nah Are­ndt bemerkt - sind dabei nicht in einem bio­lo­gi­schen Sin­ne sol­che: schon für die Grie­chen sind nur Men­schen­we­sen im wah­ren Sin­ne ’sterb­li­che‘ Wesen und kön­nen es nur sein, weil ihr kon­sti­tu­ti­ver Bezug zum Tod den zum ‚Unsterb­li­chen‘ miteinschließt.

Dabei ist der sich am wei­tes­ten her­aus­wa­gen­de Punkt die­ses Abschnit­tes (und viel­leicht auch der Extrem­punkt einer gegen­wär­ti­gen Auf­nah­me­mög­lich­keit der Are­ndt­schen Den­kungs­art in einem hand­lungs­na­hen Text) der, in dem der ‚Frei­heits­raum des Poli­ti­schen‘ mit sei­nen eigen­tüm­li­chen, unter­bre­chen­den Zeit­lich­kei­ten, sich als ein zugleich grenz- und tran­szen­denz­be­zo­ge­ner ‚Spiel­raum‘ behaup­ten kann. Der spe­zi­fi­sche Tran­szen­denz­be­zug des Poli­ti­schen - für Fehér am letzt­lich nicht instru­men­ta­li­sier­ba­ren Cha­rak­ter des ‚frei­en, öffent­li­chen Han­delns in der Repu­blik‘ fest­mach­bar - ist für ihn dann auch der für die Moder­ne ver­blei­ben­de Tran­szen­denz­be­zug. (Ágnes Hel­ler nennt ihn: ‚trans­funk­tio­na­le poli­ti­sche Tätig­keit‘ und macht, letzt­lich, Demo­kra­tie von ihr abhängig.)

Da erst durch die­sen das Poli­ti­sche nicht in das Selbst­re­fe­ren­ti­el­le von ‚Gesell­schaft‘ ein­schließ­bar ist, spannt sich dann auch von hier aus ein Bogen zu jenem ‚Ver­ste­hen‘, das im obi­gen Laclau-Zitat („To under­stand social rea­li­ty … “) arti­ku­liert wird. In Wahr­heit löst sich erst in die­sem Ver­ste­hen die in der posi­ti­ven, funk­tio­na­lis­ti­schen Gesell­schafts­fi­xie­rung wei­ter­ar­bei­ten­de, ‚umge­kehr­te Meta­phy­sik‘, d.h., das unheim­li­che, weil Unsi­cher­heit mit­pro­du­zie­ren­de Siche­rungs­wis­sen, nicht der ‚Ideen‘, son­dern der posi­tiv-selbst­re­fe­ren­ti­el­len ‚Basis‘ des Menschenuniversums.

Jedoch: Wie wohl in allen unse­ren modern-poli­ti­schen und so ’noch‘ unter dem Anspruch von eher unter ‚männ­li­chem‘ Auto­no­mie­ge­bot ste­hen­den Dis­kur­sen, wird auch hier, in die­sem Fehér-Text, etwas, für die Are­ndt­sche Den­kun­gart ent­schei­den­des, ver­scho­ben, dif­fe­riert. Es ist das, was sie, mit einem, in sei­nem poli­ti­schen Sinn zunächst nur schwer faß­ba­ren Wort, ‚Gebürt­lich­keit‘, ’nata­li­ty‘ nennt. Sie wird, öfters, in jenen Rezep­ti­ons­wei­sen Are­ndts, die weni­ger einen hand­lungs­na­hen, als einen eher phi­lo­so­phie­n­a­hen Cha­rak­ter haben, rela­tiv pro­blem­los, als ein kon­sti­tu­ti­ves Ele­ment ihrer Den­kungs­art registriert.
Sie ist, in Are­ndts Wor­ten, ‚die Gabe‘ unse­res spe­zi­fi­schen und wun­der­sa­men ‚Auf-die- Welt-Kom­mens‘, das uns, anders als blo­ße ‚Gat­tungs­exem­pla­re‘, in die Lage ver­setzt ‚etwas Neu­es zu begin­nen‘. Auf einen ers­ten Blick scheint die­se ‚Gebürt­lich­keit‘, die­se ‚Nata­li­tät‘ auch bei Han­nah Are­ndt sel­ber ihren Platz bloß in einem phi­lo­so­phi­schen Dis­kurs zu haben. „Phi­lo­so­phisch gespro­chen“ - lesen wir in ‚Macht und Gewalt‘- „ist das Han­deln die Ant­wort des Men­schen auf das Gebo­ren­wer­den (mei­ne Her­vor­he­bung, Z.Sz.); … ohne die Tat­sa­che der Geburt wüß­ten wir nicht ein­mal, was das ist: etwas Neu­es; alle ‚Akti­on‘ wäre ent­we­der blo­ßes Sich­ver­hal­ten oder Bewahren.“
Hören wir nun genau­er auf die Are­ndt­sche Arti­ku­lie­rung der ‚Gebürt­lich­keit‘ hin, so mer­ken wir: es han­delt sich hier nicht um eine anthro­po­lo­gi­sche und schon gar nicht um eine bio­lo­gi­sche Kate­go­rie. In ihr arbei­tet ein Ernst­neh­men der früh-Heid­eg­ger­schen ‚Gewor­fen­heit‘, aber auch eine Dif­fe­renz zu der­sel­ben. Sie ist, in der Are­ndt­schen Den­kungs­art, vor allen Din­gen poli­tik­kon­sti­tu­tiv: ihre Arti­ku­lie­rung insis­tiert auf die zugleich ‚geben­de‘ und ereig­nis­haf­te Dimen­si­on jenes Man­gels, der Men­schen­we­sen und ihre geschicht­li­chen Wir-Wei­sen nicht mit den ‚Exem­pla­ren einer Gat­tung‘ und mit den ’sozio­lo­gi­schen Grup­pen‘ sol­cher Gat­tungs­exem­pla­re ver­tausch­bar macht. Sie insis­tiert mit ihr aber auch auf eine unter­grün­di­ge - weil trotz des gro­ßen ‚Tra­di­ti­ons­bruchs‘ wirk­sa­me - Wei­ter­ga­be­ma­trix der poli­tisch repu­bli­ka­ni­schen Frei­heits­di­men­si­on des auch christ­li­chen Wes­tens und auf ihre, sowohl ‚Wesens­fi­xie­rung‘, wie auch ‚Schuld‘ unter­bre­chen-kön­nen­de Wirklichkeitsart.

Was ‚ver­schiebt‘ nun die Arti­ku­lier­bar­keit der ‚Nata­li­tät‘ in unse­ren poli­tik­na­hen Dis­kur­sen und Dis­kurs­plät­zen? Was hat die­se Ver­schie­bung mit den Phan­tas­men der Selbst­ge­burt zu tun, die in den ‚poli­ti­schen Wir-s‘ der modern-okzi­den­tel­len Geschich­te mäch­tig wur­den? (In ‚mate­ria­lis­ti­schen‘ und ‚kon­struk­ti­vis­ti­schen‘ Vari­an­ten). Was hat sie schließ­lich mit der Schwie­rig­keit der Bür­ger­recht­ler der vor­ma­li­gen DDR zu tun, die Erfah­rung einer ‚ant­wor­ten­den Hand­lung‘ (im obi­gen Sin­ne Are­ndts) poli­tisch ver­ständ­lich zu machen, die Wolf­gang Ull­mann - den die Geschich­te der letz­ten Jah­re vom poli­ti­schen Dis­si­denz­platz der DDR ins Euro­päi­sche Par­la­ment getra­gen hat - mit dem Satz cha­rak­te­ri­sier­te : „Wir haben eine öffent­li­che Spra­che gefun­den“?

Könn­te es denn sein, daß die schein­ba­re Unmög­lich­keit, die­se ‚öffent­li­che Spra­che‘ nach 1989 fort­zu­füh­ren, damit zu tun hat, daß der, gera­de nicht voll gesell­schafts­im­ma­nen­te poli­ti­sche Ort, wo sie sprech­bar wur­de, weder auf den poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen, noch auf den instru­men­tell- prag­ma­ti­schen Poli­tik­land­kar­ten ver­zeich­net ist?

Las­sen sie mich ver­su­chen, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, die­se Fra­ge vom ande­ren Faden die­ses Vor­trags her zu beleuch­ten. Keh­ren wir also zum Punkt zurück, wo ich uns hier frag­te, ob es nicht an der Zeit wäre, ein Are­ndt­sches Gespräch über die ‚Demo­kra­ti­sche Fra­ge‘, über ihre Öff­nungs- und Schlie­ßungs­wei­sen auf­zu­neh­men. Was ver­ste­hen wir nun unter der ‚Demo­kra­ti­schen Fra­ge‘? In wel­che Dimen­sio­nen des Poli­ti­schen, in wel­che Spiel­räu­me unse­rer poli­ti­schen und geschicht­li­chen Iden­ti­tät fragt sie hin­ein? Es ist viel­fach - wenn auch in Deutsch­land nicht hin­läng­lich - bekannt, daß die ‚Demo­kra­ti­sche Fra­ge‘ (La ques­ti­on de la démo­cra­tie, The Ques­ti­on of Demo­cra­cy) ein - oft benutz­ter - Sam­mel­ti­tel für das Haupt­the­ma der Schrif­ten von Clau­de Lefort ist. Das heißt: der Schrif­ten, die - wie kaum ein ande­res Theo­rie­werk der letz­ten 20 Jah­re - einen Ein­schnitt in das poli­ti­sche Den­ken des Jahr­hun­derts markieren.

Es sind vor allem drei Momen­te, die, in ihrem Zusam­men­spiel, die­sen Ein­schnitt zustandebringen.

Das ers­te die­ser Momen­te, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, ist die Schlüs­sel­erfah­rung des Tota­li­tä­ren. Sie ist zunächst die Erfah­rung der Ohn­macht - der Intel­lek­tu­el­len- und Hand­lungs­ohn­macht - der ratio­na­lis­ti­schen und libe­ra­len Wei­sen sich ihm ent­ge­gen­zu­set­zen. Sie ist aber auch die Erfah­rung die so etwas wie eine Kon­trast­fo­lie zur ‚geschicht­lich-poli­ti­schen Natur‘ des Demo­kra­ti­schen abgibt. Durch sie erst kön­nen wir ermes­sen und ver­ste­hen, was mit dem Demo­kra­ti­schen, als der insti­tu­ie­ren­den poli­ti­schen Ant­wort des modern-okzi­den­ta­len, auf dem Spiel steht.

Das zwei­te Moment ist das einer erfah­rungs­be­zo­ge­nen Wie­der­ver­flüs­si­gung der ‚poli­ti­schen Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten‘ der letz­ten zwei Jahr­hun­der­te: d.h.: des - das Drit­te immer aus­schlie­ßen­den - dua­lis­ti­schen Zwangs­rah­mens unse­rer funk­tio­na­lis­ti­schen und his­to­ris­ti­schen Sozi­al­ka­te­go­rien. Will also sagen: die Wie­der­ver­flüs­si­gung jener Sedi­men­te der posi­ti­vis­ti­schen Ima­gi­na­ti­on - auch inner­halb der ‚anti­po­si­ti­vis­ti­schen‘ Theo­rie- und Wahr­neh­mungs­wei­sen - die ein jedes Begeg­nen­kön­nen mit dem Okzi­den­tal-Poli­ti­schen (d.h. mit der repu­bli­ka­nisch über­tra­ge­nen demo­kra­ti­schen Insti­tu­ie­rung und mit den Ein­heits- und Zeit­lich­keits­wei­sen des­sel­ben) unmög­lich machen.

Das drit­te Moment ist schließ­lich jene Dimen­si­on der ‚Demo­kra­ti­schen Fra­ge‘, die, viel­leicht, ent­schei­den­de Figu­ren unse­rer poli­tisch-geschicht­li­chen Wir-Wei­sen fähig machen könn­te, sich - end­lich - mit der unauf­lös­ba­ren Wider­sprüch­lich­keit der moder­nen Gesell­schafts- und Natur­be­zü­ge zu kon­fron­tie­ren. D.h.: sich zu kon­fron­tie­ren dies­seits der illusionär-‚problemlösenden‘, instru­men­tell- oder moral­ra­tio­na­len Ant­wor­ten und jen­seits der ‚fal­schen Ver­spre­chen‘ der Ideo­lo­gie der Moderne.

Was das ers­te Moment betrifft: Der theo­re­ti­sche Ein­schnitt der bei Lefort von der Erfah­rung des Tota­li­tä­ren her­kommt, ist nur mit dem Han­nah Are­ndts ver­gleich­bar. In die­ser Erfah­rung spielt sich eine Art Heim­su­chung der poli­ti­schen Iden­ti­tät der Moder­ne ab. Wir könn­ten sie auch als die Erfah­rung einer unheim­li­chen Dop­pelt­heit in der Erschei­nung des Modern-Demo­kra­ti­schen kenn­zeich­nen. Es geht um die unheim­li­che Dop­pelt­heit, die wir einer­seits mit dem Ant­ago­nis­mus zwi­schen dem Demo­kra­ti­schen und dem Tota­li­tä­ren erfah­ren, und ande­rer­seits in den mani­fest gewor­de­nen Umschlags­po­ten­tia­len des Demo­kra­ti­schen, sei­ner Ver­su­chung, gera­de durch den Rea­li­sie­rungs­wil­len der sou­ve­rä­nen Volks­ein­heit und deren Anspruch die ‚Geschich­te in die eige­ne Hand zu neh­men‘, ins Tota­li­tä­re umzuschlagen.
Bei­de Sei­ten die­ser Dop­pelt­heit wur­den und wer­den immer wie­der ver­deckt und unkennt­lich gemacht.
Der Ant­ago­nis­mus des Demo­kra­ti­schen und des Tota­li­tä­ren wur­de, vor allem in den ‚pro­gres­si­ven‘ und ‚kon­ser­va­ti­ven‘ poli­ti­schen Öffent­lich­kei­ten die­ses Jahr­hun­derts immer wie­der vom vor­der­grün­dig-pla­ka­ti­ven Anti­kom­mu­nis­mus und Anti­fa­schis­mus der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen und bol­sche­wis­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus­ge­stal­ten ver­deckt. Unkennt­lich gemacht wur­de dabei, daß bei­de Gestal­ten - mit der glei­chen hin­ter­grün­di­gen Prä­zi­si­on - die demo­kra­ti­sche Insti­tu­ie­rungs­wei­se inner­halb der okzi­den­tell-moder­nen poli­ti­schen Gesell­schaft­lich­keit im Visier gehabt haben. Im Faden­kreuz bei­der lag die demo­kra­ti­sche - oder auch revo­lu­tio­nä­re - Insti­tu­ie­rungs­wei­se unse­rer Wir-For­men, unse­rer poli­ti­schen Ein­heits­for­men. D.h.: die Insti­tu­ie­rungs­wei­se, die im repu­bli­ka­ni­schen Über­trags­me­di­um des jüdisch-christ­li­chen ‚covenant‘-Volkes und des polis-haf­ten Frei­heits­rau­mes der ‚poli­ti­cal nati­on‘ mög­lich und erhan­del­bar wur­de. Uner­träg­lich war dabei, für bei­de tota­li­tä­re Gestal­ten, nicht nur die Art und Wei­se wie die­se Insti­tu­ti­ons­wei­se immer wie­der exis­ten­ti­el­le Entor­tun­gen der Ein­zel­nen schein­bar zuließ, son­dern auch und vor allem die Art und Wei­se wie sie ihre eige­nen Grund­la­gen, d.h., die Wir-Wei­sen die uns ‚hal­ten‘ sol­len, einer irre­du­zi­blen Plu­ra­li­tät und einem poli­ti­schen Ant­ago­nis­mus aussetzte.

Des­glei­chen wur­de die geschicht­li­che - und gleich­sam ’nach-meta­phy­si­sche‘ - Dimen­si­on die­ses Ant­ago­nis­mus in der poli­ti­schen Öffent­lich­keit der zwei­ten Nach­kriegs­zeit nur all­zu oft zu einem ideo­lo­gi­schen Gegen­satz oder zu einem der Legi­ti­mi­täts­dif­fe­ren­zen der posi­ti­ven Insti­tu­tio­nen verflacht.
Der frag­li­che Ant­ago­nis­mus wur­de und wird aber auch im Gesell­schafts- und Geschichts­ver­ständ­nis unse­rer vor­herr­schen­den Gesell­schafts- und Geschichts­wis­sen­schaf­ten unkennt­lich gemacht. Unkennt­lich des­halb, weil er inner­halb die­ser Wirk­lich­keits­ver­ständ­nis­se, nur als ein sekun­dä­rer Ant­ago­nis­mus erschei­nen kann.

Wir alle ken­nen, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, jenes, in die all­täg­li­che Gegen­warts­wahr­neh­mung her­ein­herr­schen­de Ver­ständ­nis der glo­ba­li­sier­ten ‚Mensch­heits­la­ge‘, auf des­sen Hin­ter­grund der frag­li­che Ant­ago­nis­mus des 20. Jahr­hun­derts, der sich in noch kaum aus­mach­ba­ren Wei­sen in jenes über­trägt, das auf uns zukommt, als ein rela­tiv sekun­dä­rer erschei­nen muß.

Wie soll auch die­ser Ant­ago­nis­mus nicht sekun­där sein dort, wo es uns - wenn auch fern von unse­rern wirk­li­chen poli­ti­schen Hand­lungs­er­fah­run­gen - fast gänz­lich selbst-ver­ständ­lich gewor­den ist, daß die wirk­lich ent­schei­den­den Pro­ble­me die eines uns alle invol­vie­ren­den Geschichtspro­zes­ses sind, eines objek­ti­ven wie vol­un­t­a­ris­ti­schen Geschichts­pro­zes­ses also, des­sen selbst­re­fe­ren­ti­el­les Sub­jet - die ‚Mensch­heit‘ als rein posi­ti­ve ‚Welt­ge­sell­schaft‘ in einer aus­schließ­lich linea­ren Zeit­lich­keit - aus­ge­macht ist?
Was wird auch nicht alles sekun­där, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, wenn man zu wis­sen meint, daß die ‚Über­le­bens­pro­ble­me der Mensch­heit‘ die ein­zig wirk­li­chen oder zumin­dest die klar prio­ri­tä­ren poli­ti­schen Fra­gen sind? Und wenn man eben­so zu wis­sen meint, daß hin­ter den Schre­cken der pla­ne­ta­ri­schen Gewalt- und Aus­schluß­phä­no­me­ne - deren Pro­ble­me ‚die Poli­tik‘, instru­men­tell oder mora­lisch, natür­lich zu lösen hät­te - sich nichts ande­res ver­birgt, als die noch nicht voll säku­la­ri­sier­ten und nicht sta­bil genug zivi­li­sier­ten Schich­ten der Men­schen­we­sen - ihre bar­ba­ri­schen oder regre­die­ren­den Antei­le also? (Wenn sie schon nicht vom ‚poli­tisch Bösen‘ her­kom­mend wahr­ge­nom­men wer­den, vom ‚faschis­ti­schem Wesen‘, von der ‚Macht­gier der Eli­ten‘, oder aus jenem ‚euro­zen­tris­ti­schen Wachs­tums­wahn‘, der bloß auf eine ’nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung‘ umzu­schal­ten wäre, wie es uns die ver­dum­mend-mora­lis­ti­schen Mahn- und Schuld­ge­schich­ten des glo­ba­len Fern­se­hens tag­täg­lich zumuten.)

Ist es nicht klar, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, daß inner­halb der­ar­ti­ger, eine aus­schließ­li­che und end­gül­ti­ge Wirk­lich­keit bean­spru­chen­den Pro­blem- und Pro­blem­lö­sungs­vor­stel­lun­gen, das Demo­kra­ti­sche - und somit auch ihr Ant­ago­nis­mus zum Tota­li­tä­ren - auch und gera­de in Bezug auf das Öko­lo­gi­sche nur eine sekun­dä­re Bedeut­sam­keit rekla­mie­ren kann? Von ihnen her - objek­tiv - gese­hen, hat unse­re ratio­nal-funk­tio­na­le - uns so gleich­sam natür­li­che - Wir-Iden­ti­tät, und der ‚Geschichts­pro­zess‘ auf dem sie auf­sitzt, d.h. die zwei Instan­zen durch die wir das Öko­lo­gi­sche kon­fron­tie­ren soll­ten, mit der repu­bli­ka­nisch über­tra­ge­nen demo­kra­ti­schen Insti­tu­ie­rung unse­rer okzi­den­tell-poli­ti­schen Wir-For­men und mit ihren Zei­ti­gungs­wei­sen nichts zu tun. Es ist letzt­lich eine Fra­ge der Mit­tel- und Wer­te­ab­wä­gung, ob ‚wir‘ (was dies auch immer ‚objek­tiv‘ hei­ßen soll) die soge­nann­te öko­lo­gi­sche Über­le­bens­fra­ge ‚demo­kra­tisch‘ ange­hen wol­len oder auch nicht. Anders gesagt: das Demo­kra­ti­sche kann, in die­sem wis­sen-schaft­lich gestütz­ten a-poli­ti­schen Wirk­lich­keits­ho­ri­zont, nur eine mora­lisch mehr oder weni­ger legi­ti­mie­ren­de und letzt­lich bloß pro­ze­du­ra­le Instanz sein. Für die rea­lis­ti­sche Ima­gi­na­ti­on kann es das Demo­kra­ti­sche als die span­nungs­ge­la­de­ne modern- und meta­mo­der­ne, pri­mär-sym­bo­li­sche und sich dem Ande­ren aus­set­zen­de Seins­wei­se unse­rer geschicht­li­chen Wir-Form gar nicht ‚geben‘. Oder wenn, dann nur als ein Gespenst inner­halb der sich sel­ber bestä­ti­gen­den ‚ent­zau­ber­ten Welt‘ Max Webers.

Wie aber, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te der Tagung, wenn es so wäre, daß wir auf das, was auf uns am Ende die­ses Jahr­hun­derts fra­gend und bedrän­gend zukommt - und somit auch auf das, was uns als das Öko­lo­gi­sche erschie­nen ist - nur aus einer Wir-Wei­se her­aus ant­wor­ten könn­ten - frei ant­wor­ten, nicht zwang­haft reagie­ren - in der die­ses Gespenst - das Gespenst jener Frei­heit die Han­nah Are­ndt immer gemeint hat - samt sei­ner Wirk­lich­keits­art nicht ver­leug­net wird?

Wie, wenn die­se Are­ndt-Tagung - und unser Han­nah-Are­ndt-Preis sel­ber - gar nicht hät­te zustan­de kom­men kön­nen, wäre die­se Fra­ge, wäre die­se wahr­neh­mungs­vol­le Ver­mu­tung nicht an dem Punkt, sich einen poli­tisch-geschicht­li­chen Öffent­lich­keits- und Reso­nanz­raum zu geben? Und wie wenn die­ser Punkt, die­se nicht topo­lo­gisch oder chro­no­lo­gisch ver­ort­ba­re Schwel­le, weni­ger an intel­lek­tu­el­len Lern- und Ent­wick­lungs­pro­zes­sen läge, als an den mani­fes­ten wie auch unter­schwel­li­gen poli­tisch-geschicht­li­chen Ereig­nis­sen die­ser letz­ten zwan­zig Jah­re, die, in einer völ­lig uner­war­te­ten Wei­se, die geschicht­li­chen Hori­zon­te unse­rer Welt, eben­so wie ihre Besetzt­heit und Durch­läs­sig­keit, auch für die trans­for­miert haben, die es noch nicht wahr­ha­ben wollen?

Sie sehen, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te die­ser Han­nah-Are­ndt-Tagung, wie von die­sem Punkt des Vor­tra­ges sich eini­ges beleuch­tet. Sich beleuch­tet, sowohl nach vor­ne hin, zu der Bedeu­tung die der Schluß die­ses Vor­tra­ges anneh­men könn­te, wie auch nach hin­ten, zum Sinn des Titels die­ses Vor­tra­ges hin und zum Sinn des Vor­schla­ges, ein Are­ndt­sches Gespräch über die Demo­kra­ti­sche Fra­ge aufzunehmen.

Hier ging es ja nicht dar­um, eine rein buch­stäb­li­che, inter­sub­jek­ti­ve Kom­mu­ni­ka­ti­on über Are­ndt­sche The­men auf­zu­neh­men, son­dern um die Erwei­te­rung jener auch poli­ti­schen Wir-Wei­sen, in denen die ant­wor­ten­de, zeit­kon­fron­tie­ren­de Dimen­si­on der Are­ndt­schen Den­kungs­art- und somit ihre geschicht­li­che Bedeu­tung - ver­nehm­bar wird.

Sie haben es wahr­schein­lich auch gemerkt, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, daß wir schon bei der Erör­te­rung des ers­ten Moments des Lefort’schen Ein­schnitts, d.h. bei sei­ner für die ‚Form‘ der Theo­rie und für die Iden­ti­täts­wei­se unse­res poli­ti­schen Wir’s glei­cher­ma­ßen rele­van­ten Erfah­rung des Tota­li­tä­ren, die ‚Demo­kra­ti­sche Fra­ge‘ nicht mehr nur als einen Lefort­schen Titel und eine Lefort’sche The­ma­tik behan­deln konn­ten oder woll­ten. In der Tat: in den letz­ten zwan­zig Jah­ren ist, rela­tiv plötz­lich, und unzwei­fel­haft mit den seis­mi­schen Erschüt­te­run­gen der ‚Erde‘ ver­bun­den, die zum ‚Him­mel‘ unse­rer Zeit- und Sinn­ho­ri­zon­te und sei­ner radi­ka­len Wand­lun­gen gehört, eine gan­ze Kon­stel­la­ti­on von ein­schnei­den­den, neu­en Annä­he­run­gen an das Poli­ti­sche entstanden.

Für die sie bil­den­den­den Theo­rien, Dis­kur­se, Fra­ge- und Ver­ständ­nis­wei­sen - die alle, in einem Are­ndt­schen Sin­ne, auch hand­lungs­nah sind, ohne direkt-prag­ma­tisch zu sein - ist gera­de ‚Die Kon­stel­la­ti­on der Demo­kra­ti­schen Fra­ge‘ ein adäqua­ter und guter Name. In ihnen haben sich Erfah­rungs­wei­sen des Poli­ti­schen ange­bahnt, für die die Ver­ban­nung jenes Gespens­tes der Frei­heit von der oben die Rede war, nicht mehr die selbst-ver­ständ­li­che Vor­be­din­gung ist, um poli­tisch ‚gut genug‘ den­ken, ver­ste­hen und han­deln zu kön­nen. In ihnen gelingt es das ers­te mal - sei es nun ‚in‘ der Moder­ne oder an ihrer Über­tra­gungs­schwel­le - die ent­po­li­ti­sie­ren­de Dimen­si­on der bür­ger­li­chen Welt und ihrer Geschich­te, ihr fal­sches Ver­spre­chen, das Poli­ti­sche in einem ant­ago­nis­mus- und gebürt­lich­keits­frei­en, rein inter­es­sen- und wert­ra­tio­na­len gesell­schaft­li­chen Innen­raum zurück­zu­ho­len, in einer Wei­se zu kon­fron­tie­ren, die nicht mehr das Reak­ti­ve und das unter­schwel­lig Sub­al­ter­ne an sich hat, die die For­men die­ser Kon­fron­ta­ti­on mehr als zwei Jahr­hun­der­te lang bestimmt hat. Das heißt: jene For­men des fast immer Anti-Libe­ra­len, des oft Anti- Ratio­na­len und, in der ent­schei­den­den Hin­sicht, auch Anti-Demo­kra­ti­schen, von denen sich auch sol­che her­aus­ra­gen­den Zugän­ge zum Poli­ti­schen wie die eines Sor­el oder eines Carl Schmitt kaum rich­tig frei­ma­chen konnten.

Die­se Zugangs­wei­sen zum, die­se Ver­ste­hens­wei­se des Poli­ti­schen (und beim ‚Ver­ste­hen‘ soll­ten wir, mit Han­nah Are­ndt, an das den­ken, was das ‚facing‘, die Kon­fron­ta­ti­on mit dem was ist und mit dem was auf uns - aus Zukunft und Ver­gan­gen­heit - zukommt, mög­lich macht) konn­ten nicht nur durch die offe­nen Ris­se zustan­de­kom­men, die die vie­ler­orts fast ‚rea­li­sier­te‘ Psycho- und Sozi­al­on­to­lo­gie der Moder­ne geschicht­lich bekom­men hat. (Das heißt, jene dicho­to­mi­sche Dop­pel­on­to­lo­gie, die gehei­ßen ist, alles
auf ein rein sub­jek­ti­ves, schwel­len­lo­ses Innen, oder auf ein rein objek­ti­ves - und so voll äuße­res Außen - zu redu­zie­ren und so die Form der Meta­phy­sik auch im ‚Anti-Meta­phy­si­schen‘ weiterträgt.)

Die­se Ris­se waren ja im Grun­de nie ganz schließ­bar. Und mehr noch: wie wir es, ver­mut­lich, erst heu­te adäqua­ter wahr­neh­men kön­nen, hat sich die demo­kra­ti­sche Revo­lu­ti­on, die geschicht­li­che Insti­tu­ie­rung unse­res sym­bo­lisch-ant­ago­nis­ti­schen ‚poli­ti­schen Kör­pers‘ gera­de durch die Ris­se hin­durch insti­tu­iert. Nur durch die­se Ris­se - durch die­ses ‚gap‘, durch die­se Lücke -, und nicht auf der Basis und in der Logik unse­rer all­ge­mein vor­herr­schen­den Sozio- und Psy­cho­on­to­lo­gie, konn­te die über­gangs­raum-ein­ge­bet­te­te und eben dar­um ‚durch­läs­si­ge‘ Form erhan­delt wer­den, die die Form der Ein­heit all des­sen ist, das wir ‚okzi­den­tell-moder­ne Gesell­schaft‘ nen­nen. Die ‚Uni­ver­sa­li­tät‘ der­sel­ben ist nicht eine fest­ge­stell­te oder gefor­der­te, son­dern eine - in der poli­ti­sche Spra­che spre­chend - ansprechende.

Es ist viel­leicht auf­schluß­reich, an die­sem Punkt auf eine kaum wahr­ge­nom­me­ne theo­re­ti­sche Schlüs­sel­stel­le in Are­ndts ‚Ursprün­ge und Ele­men­te tota­li­tä­rer Herr­schaft‘ hin­zu­wei­sen. In ihr ist auch von einem ‚gap‘, von einer ‚Kluft‘ die Rede. Es geht um die „Kluft“, so lesen wir auf Sei­te 49 des Buches, „zwi­schen Staat und Gesell­schaft“. Das heißt: zwi­schen jenen zwei dicho­to­mi­siert- kom­ple­men­tä­ren Gestal­ten des Sozia­len, die für den ‚tabula-rasa‘-Gründungsmythos der bür­ger­li­chen Moder­ne die allei­ni­gen Wirk­lich­keits­wei­sen sind. (Kom­ple­men­tä­re Gestal­ten, wie Han­nah Are­ndt es bemerk­te, auch in dem Sin­ne der ‚guten‘ (weil macht­frei-selbst­or­ga­ni­sier­ten) Gesell­schaft und des ‚bösen‘ (weil macht­ver­dich­te­ten) Staa­tes: ein Mythos, der, wie wir wis­sen, eine lan­ge ideo­lo­gi­sche wie sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Fort­set­zung hat.)
Es ist nun, selt­sa­mer­wei­se, ‚auf‘ die­ser Kluft, daß Han­nah Are­ndt jenes etwas, jenen meta­pho­ri­sier­ten (und nie voll ‚intersubjektiv‘-buchstäblichen) Öffent­lich­keits­raum auf­ru­hen sieht, den sie den ‚poli­ti­schen Kör­per der Nati­on‘ nennt. Sie spricht von die­sem ‚poli­ti­schen Kör­per‘, hier in die­sem Kon­text, als von etwas, das in Euro­pa (in Euro­pa wohl­ge­merkt, und nicht in Ame­ri­ka) genau in den Umbrü­chen hin zur tota­li­tä­ren Implo­si­on prak­tisch ‚unter­ge­gan­gen‘ ist. Sie fügt aber etwas hin­zu, das, für die heu­te hoch­kon­junk­tu­rel­len sozio­lo­gi­schen Bemü­hun­gen um das Pro­blem der ‚Inte­gra­ti­on‘ und ‚Migran­ten‘, bemer­kens­wert sein müß­te: „Ohne die­se Kluft“, lesen wir -und das heißt auch: ohne das auf sie ent­grün­det-Gegrün­de­te -, „hät­te kei­ne Not­wen­dig­keit, ja nicht ein­mal eine Mög­lich­keit bestan­den, die Juden in die euro­päi­sche Geschich­te“ -Geschich­te wohl­ge­merkt, nicht Gesell­schaft und nicht Staat - „voll einzugliedern“.
Wir kön­nen auf die viel­fäl­ti­gen Anklä­ge die­ser Schlüs­sel­stel­le, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, nicht wei­ter ein­ge­hen. Das in ihr wei­ter­hin Beden­kens­wer­te möch­te ich uns aber noch wenigs­tens in Form von zwei Fra­gen mit auf den Weg geben:
- Hie­ße das hier von Are­ndt gesag­te, daß es ‚Geschich­te‘, nicht als Fort­schritts- oder Ver­falls­ge­schich­te, son­dern als die Zei­ti­gungs­art unse­res auf der ‚Kluft‘ gegrün­de­ten Frei­heits- und Über­tra­gungs­rau­mes, nur dort geben kann, wo die­ses ‚Zwi­schen‘, als das eigent­lich und spe­zi­fisch Geschichts­öff­nen­de, nicht gänz­lich ver­schüt­tet ist? War und ist damit der Tota­li­ta­ris­mus, noch hin­ter all sei­nen kon­kre­ten Schre­cken, vor allem das, was das geschicht­li­che Sein unse­rer Wir’s, und damit unse­re Demo­kra­tie­fä­hig­keit, sel­ber bedroht hat und wei­ter bedroht?
- Hat dies etwas damit zu tun, was Ágnes Hel­ler und Ferenc Fehér als ‚Bio­po­li­tik‘ und als das ‚Ver­schwin­den der okzi­den­ta­len Span­nung zwi­schen Frei­heit und Leben‘ benannt haben? D.h. mit jenem a-poli­tisch-schein­po­li­ti­schen Raum, in dem sich Wir-Iden­ti­tä­ten nur noch als geschlos­se­ne Prä­senz-Iden­ti­tä­ten bil­den kön­nen, die von den ras­sis­ti­schen und eth­ni­schen Iden­ti­tä­ten bis hin zu den Son­der­iden­ti­tä­ten von ‚Frau­en‘, ‚Män­nern‘ oder ‚Kul­tu­ren‘ gehen kön­nen? Und damit, daß sich ihnen gegen­über die­sel­be libe­ral-ratio­na­le Ohn­macht wie­der­holt, die sich, in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, schon ein­mal gezeigt hat?

Las­sen sie mich, lie­be Freun­din­nen und Gäs­te, bevor wir noch ein­mal zur Demo­kra­ti­schen Fra­ge im Lefort’schen und im erwei­ter­ten Sin­ne zurück­kom­men, noch eine Zwi­schen­be­mer­kung machen.
Vie­len mag zunächst die Rede über das ‚Drit­te‘, über die ‚Kluft zwi­schen Staat und Gesell­schaft‘, über das ‚Gespenst der Frei­heit‘ als eine phi­lo­so­phi­sche Spe­ku­la­ti­on vor­kom­men, die mit ‚kon­kre­ten poli­ti­schen Fra­gen‘ nichts zu tun hat. Es genügt aber unse­re tag­täg­li­che poli­ti­sche Erfah­rung wirk­lich ernst zu neh­men, um uns dar­über anders beleh­ren zu las­sen. Dabei wird offen­bar, was uns alles ‚im Kopf‘ dar­an hin­dert, sie - hand­lungs­nah im Are­ndt­schen Sinn - ernstzunehmen.
Sehen wir uns doch ein­mal in aller Kür­ze an, was ein Ver­ste­hen des Poli­ti­schen, im Are­ndt­schen Sin­ne, am Bei­spiel der bos­ni­schen Kata­stro­phe eröff­nen kann. An der Kata­stro­phe also, die auch eine der auf­rech­ten Wir’s der okzi­den­tel­len ‚poli­ti­cal nati­ons‘ und ihrer Zusam­men­hal­te ist. Wir erfah­ren, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, mit einer ziem­li­chen Prä­zi­si­on, wie die rea­lis­tisch- mora­lis­ti­schen Iden­ti­täts­zwän­ge gegen­über dem poli­tisch-geschicht­li­chen Han­deln blo­ckie­rend ‚arbei­ten‘, so daß unser ver­ste­hen-kön­nen­des, sich aus­set­zend-kon­fron­tie­ren­kön­nen­des Wir gar nicht zum Zuge kom­men kann. Wenn wir hier über das ‚Wir‘ spre­chen, so ist dabei weder von etwas Sub­stan­ti­el­lem oder Kol­lek­ti­vem, noch über eine Art von Selbst­be­wußt­sein die Rede. Das Wir, von dem aus wir auch spre­chen kön­nen, ist auch kein Kol­lek­tiv-Ego. Es ist, von sich aus, und immer von einem genau­en, aber sich der Fest­le­gung ent­zie­hen­den Ort her, an das Ande­re gerich­tet und gewen­det, an das Ande­re, das es - im dop­pel­ten Sin­ne - angeht.

Die aus­chlie­ßen­den Dicho­to­mien, eher der bür­ger­li­chen als der demo­kra­ti­schen Moder­ne - die schein­bar immer zwang­haf­ter, aber so auch sicht­ba­rer wer­den -, las­sen jedoch im Grun­de die­ses poli­ti­sche, hand­lungs­na­he, zeit­aus­ge­setz­te und sich kon­fron­ta­tiv-aus­set­zen­de Wir gar nicht zu. Wie es an den Bos­ni­en-Dis­kus­sio­nen deut­lich wur­de: Für den dua­lis­ti­schen Wir-Rea­lis­mus kön­nen ‚Wir‘ ent­we­der nur Wir-s von Natio­nal­staa­ten und ihrer Bünd­nis­se sein, mit den har­ten, ein­deu­ti­gen und undurch­läs­si­gen Gren­zen der­sel­ben, über die nur das instru­men­tell-stra­te­gi­sche Han­deln im hand­fes­ten natio­nal­staat­li­chen Inter­es­se hin­aus­reicht, oder das ‚Wir‘ der mora­lisch-uni­ver­sel­len ‚Gesell­schaft‘, die nur uni­ver­sal, pla­ne­ta­risch-poli­zei­lich, im Namen zeit­lo­ser Prin­zi­pi­en han­deln kön­nen soll. (Und in dem übri­gens die in das poli­ti­sche Han­deln hin­ein­spie­len­de Macht- und Gewalt­di­men­si­on als ‚Appli­ka­ti­on des Geset­zes‘ - und so als etwas im Grun­de ‚Gewalt­frei­es‘ - kaschiert ist.)

Bei­de die­ser Wir-s haben jenen Vor­teil der Ein­deu­tig­kei und Sicher­heit, mit dem ihre geschicht­li­chen Ursprün­ge ver­knüpft sind. Sie geben für das Han­deln jeweils voll gesi­cher­te, voll ‚ratio­na­le‘ Grund­la­gen ab; kei­nes der bei­den muß sich dem Ande­ren wirk­lich aussetzen.

Aber ‚teri­um datur‘, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te. Wir erfah­ren doch, wenn wir es wagen poli­tisch-geschicht­lich zu den­ken und zu ver­ste­hen, mit einem Wir, aus dem das Gespenst der Frei­heit nicht ver­bannt ist und das sich auch gegen­über der geschicht­lich-poli­ti­schen Bedeu­tung des Sie­ges einer Agres­si­on aus­setzt, daß etwas an den Unmög­lich­keits­ge­bo­ten an das Han­deln, die von den bei­den ratio­nal aner­kann­ten Wir-Rea­li­tä­ten aus­geht, nicht stimmt.

Wir haben übri­gens, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, bei die­sem kon­kret-poli­ti­schen Exem­pel, fast unbe­merkt, etwas in den Blick bekom­men, auf das wir nicht näher ein­ge­hen, son­dern das wir nur kurz ver­mer­ken wol­len. Es ist die Tat­sa­che, daß die ‚Demo­kra­ti­sche Fra­ge‘, ent­ge­gen dem poli­ti­schen All­tags- und Wis­sen­schafts­ver­stän­dis, kei­ne Fra­ge eines rei­nen ‚Innen‘, kei­ne rein ‚innen­po­li­ti­sche Fra­ge‘ sein kann. Das ‚Außen‘ der­sel­ben ist aber auch nicht das ‚rei­ne‘ Aus­sen der klas­sisch- natio­nal­staat­li­chen ‚Außen­po­li­tik‘.

Dies letz­te­re mag wie­der­um als eine abs­trak­te Spe­ku­la­ti­on erschei­nen, über etwas, das es gar nicht gibt. Dabei schärft uns die­se Über­le­gung den Blick auf etwas Nahe­lie­gen­des, was die rein ‚real­po­li­tisch‘ geschul­te Seh­wei­se garan­tiert über­springt, auch wenn es ihr tag­täg­lich vor der Nase liegt. Fra­gen wir ein­mal: ist etwa das Ver­hält­nis Außen/Innen für die ame­ri­ka­ni­sche Demo­kra­tie das­sel­be wie für die Demo­kra­tien West­eu­ro­pas? Gibt es viel­leicht eine west­eu­ro­päi­sche Demo­kra­tie wo das Par­la­ment, auch gegen die Exe­ku­ti­ve, über ‚außenpoli­ti­sche Fra­gen‘ ent­schei­det. Seit mehr als hun­dert Jah­ren pflegt man auf sol­che Fra­gen, inner­halb des west­eu­ro­päi­schen poli­ti­wis­sen­schaft­li­chen Para­dig­mas, mit der ‚ame­rik­an­si­chen Aus­nah­me‘ zu ant­wor­ten. Könn­te es aber nicht sein, daß es eher um die ‚west­eu­ro­päi­sche Aus­nah­me‘ geht, um die ein­zi­ge poli­tisch-geschicht­li­che Regi­on der Welt, in der die dicho­to­mi­sche Sozi­al­on­to­lo­gie der bür­ger­li­chen Moder­ne ‚fast‘ ver­wirk­licht wer­den konn­te, so daß sie den Anschein des ‚Natür­li­chen‘ bekam?
Unse­re Geschich­te wür­de ganz anders aus­schau­en, wäre für die ame­ri­ka­ni­sche poli­ti­sche Nati­on - bei all den impe­ria­len Über­la­ge­run­gen der ame­ri­ka­ni­schen Staats­wirk­lich­keit - auch in den zwei Welt­krie­gen das ‚Außen‘ die glei­che Art von ‚Außen‘ gewe­sen, wie für die west­eu­ro­päi­schen Natio­nal­staa­ten, in denen die mehr­zeit­li­che poli­ti­cal nati­on und das Gespenst der Frei­heit beson­ders gründ­lich zum Schwei­gen gebracht wer­den konn­te. Dabei dürf­te es aber hin­läng­lich klar sein, daß die Art der ame­ri­ka­ni­schen Repu­blik, trotz der sich über­kreu­zen­den Dis­kur­se über ’natio­na­le Inter­es­sen‘ und ‚mora­li­sche Gebo­te‘, sich auf Momen­te zu bezie­hen, in denen der das Demo­kra­ti­sche ermög­li­chen­de Frei­heits­raum geschicht­lich ins Spiel kommt, nichts mit einer nor­ma­tiv-mora­li­schen Bezie­hung aus dem Nir­gend­wo zu tun hat; die Ver­ei­nig­ten Staa­ten sind kei­ne ‚Gewis­sens­or­ga­ni­sa­ti­on‘.

Aber keh­ren wir noch ein­mal zu den Bedin­gun­gen der Demo­kra­ti­schen Fra­ge zurück.
Wir haben oben gesagt, daß es nicht nur die geschicht­lich-poli­tisch zu Tage getre­te­nen Ris­se in der Geschichts-, Psycho- und Sozio­on­to­lo­gie der Moder­ne waren, die die Demo­kra­ti­sche Fra­ge her­vor­tre­ten lie­ßen. Es ist ja real sogar so, wie wir wis­sen, daß für die noch immer hege­mo­ni­schen Denk­wei­sen der Sozi­al- und Geschichts­wis­sen­schaf­ten der tota­li­tä­re Ein­bruch im Grun­de als eine Bestä­ti­gung ihrer Kate­go­rien und nicht als etwas, das sie in Fra­ge stellt, gele­sen wur­de. Für die Sozi­al­on­to­lo­gie des main­streams der Sozi­al- und Poli­tik­wis­sen­schaf­ten, die ja aus der Zeit vor die­sem Ein­bruch stammt, ist mit die­sem nichts ‚Onto­lo­gie­re­le­van­tes‘, nicht Pro­blem­be­leuch­ten­des vor sich gegangen.
Dies gilt übri­gens auch für die Beleuch­tung unse­rer Geschich­te und unse­rer poli­ti­schen Iden­ti­tä­ten, die von den Ereig­nis­sen um 1989 und von Phä­no­men der pol­ni­schen Soli­dar­nosc, die dies mög­lich gemacht haben, aus­geht. Des­halb lesen wir auch in der Vor­be­mer­kung eines Büch­leins von Jür­gen Haber­mas zu die­sen Ereig­nis­sen das schö­ne Exem­pel einer Freud’schen Ver­nei­nung! „Nein“, heißt es da, ver­nei­nungs- und ver­leug­nungs­be­to­nend, „die Ereig­nis­se wer­fen kein neu­es Licht auf unse­re alten Probleme.“
Gibt es nun, so müs­sen wir uns fra­gen, auch noch eine ande­re Ereig­nis­art die­ser Ris­se, eine auf einer ande­ren Ebe­ne, die es mit-ermög­licht, die geschicht­lich-poli­ti­schen Ereig­nis­se die­ses Jahr­hun­derts in ihrer vol­len Dimen­si­on wahr­zu­neh­men? Könn­te es sein, daß es die Aus­blen­dung die­ser Ris­se der Onto­lo­gie der vol­len Begründ­bar­keit und des uni­ver­sel­len Ein­deu­tig­ma­chen­kön­nens ist, die die wis­sen­schaft­li­che und poli­ti­sche Wahr­neh­mung die­ser Dimen­si­on blo­ckiert? Es kommt ja nicht aus einer rein mora­li­schen Insen­si­bi­li­tät her­aus, daß die Ver­tre­ter des Wis­sen­schafts­wis­sens ihre Abwehr­re­ak­tio­nen gegen­über die­sen Ereig­nis­sen entwickeln.
Die­se ande­re Art der Ris­se in der moder­nen Ver­zau­be­rung der Welt, in der wohl mäch­tigs­ten, die es je gab, die sich als die end­gül­ti­ge Ent­zau­be­rung der Welt aus­gibt - und so wohl, impli­zit, genau jenes ‚Ende der Geschich­te‘ ver­kün­det, bei deren expli­zi­ten Her­aus­stel­lung sie sich skan­da­li­siert -, exis­tiert in der Tat. Sie waren wohl auch schon im Ereig­nis des Marx’schen Den­kens ange­legt, wie Jac­ques Der­ri­da uns kürz­lich gezeigt hat. ‚Das Gespenst des Kom­mu­nis­mus‘ war, in vie­len Hin­sich­ten, eine Ver­wand­lung des ‚Gespens­tes der Frei­heit‘, das trotz sei­ner Wie­der­ver­ban­nung in die Geschlos­sen­heit der Geschichts- und Sozi­al­on­to­lo­gie, eine Spur sei­ner Unein­schließ­bar­keit bewahrt hat.
Voll­ends zu Tage getre­ten sind aber die­se Ris­se in jenen Denk­durch­brü­chen, die sich an den ent­schei­den­den ‚Schwach­stel­len‘ der frag­li­chen Onto­lo­gien ereig­net haben: an den gewalt­för­migs­ten (weil welt­zer­stö­rends­ten) Reduk­ti­ons­an­stren­gun­gen die­ser Onto­lo­gien dem gegen­über, was den gebürt­li­chen und sterb­li­chen, nie ganz imma­nen­ten und ganz tran­szen­den­ten Men­schen­we­sen und ihren geschicht­li­chen Wir-Wei­sen ‚Zeit‘ und ‚Spra­che‘ ist.
(Vie­les spricht dafür, daß das verbergend/entbergende Moment der Über­lap­pung die­ser zwei ‚Schwach­stel­len‘ noch eine drit­te, eher ver­bor­ge­ne­re wahr­nehm­bar macht, an die, in ihren guten Momen­ten der Dif­fe­renz­fe­mi­nis­mus anklopft: Heid­eg­ger und Der­ri­da wei­sen mit dem ‚es gibt‘ dar­auf hin, Are­ndt mit der ‚Gebürt­lich­keit, Win­ni­cott mit der ‚Mut­ter‘ der Men­schen­we­sen, die - wahr­schein­lich genau­er als die Mathe­ma­tik - jenes ‚Gut Genug‘ trifft, mit dem sie sowohl in die ‚Frei­heit‘, wie in den ‚Halt‘ entläßt.)

Es ist oft gespens­tisch zu sehen, wie, heu­te noch, in unse­ren hege­mo­nisch sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen, geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kur­sen ver­zwei­felt ver­sucht wird, die­se Ris­se und Durch­brü­che unge­sche­hen zu machen. Es wird, mit einer sich stei­gern­den Anstren­gung, ver­sucht, den absur­den Glau­ben zu bewah­ren, daß das, was sich vor allem im Den­ken Saussure’s, Freuds, Heid­eg­gers und Win­ni­cotts ereig­net hat, eine Sache der Lin­gu­is­tik, der Psy­cho­lo­gie, der Phi­lo­so­phie oder gar der Kin­der­psy­cho­lo­gie wäre, die unse­re - onto­lo­gisch gesi­cher­te - ‚wirk­li­che Wirk­lich­keit‘ unse­rer Welt, unse­rer Selbste und Wir-e gar nicht berüh­ren wür­de. Genau jene ‚wirk­li­che Wirk­lich­keit‘, die, wie wir gese­hen haben, das Poli­ti­sche und das ‚Gespenst der Frei­heit‘ nie rich­tig zulas­sen konnte.
Es ist aber genau durch die­se Ris­se der Sozio- und Psy­cho­on­to­lo­gie, genau durch die­se Denk- und Erfah­rungs­durch­brü­che, daß uns das Poli­ti­sche ent­ge­gen­kom­men kann. Nicht, was eine fast auto­ma­ti­sche Ein­übung ver­feh­lend nahe­legt, als eine ’neue Begrün­dung‘ des­sel­ben, son­dern als die Mög­lich­keit mit den Stär­ken und Schwä­chen des Ratio­na­len anders umzugehen.
Mau­rice Mer­leau-Pon­ty, des­sen Gestalt, zusam­men mit der Han­nah Are­ndts, hin­ter Clau­de Lefort steht, sag­te in einer sei­ner letz­ten Vor­le­sun­gen über die, auch für ihn epo­cha­le Bedeu­tung des Heid­eg­ger­schen Den­kens, daß in ihm ‚die Anstren­gung‘ arbei­tet ‚unse­re Fähig­keit sich zu irren in die Wahr­heit‘ ein­zu­glie­dern. Und auch die Anstren­gung, ‚die Fra­ge‘, die dem Sich-Ent­zie­hen des Seins in sei­ner Uner­schöpf­lich­keit, d.h. auch sei­ner Abwe­sen­heit, Uner­fass­bar­keit gerecht wird, in die ‚Evi­denz des Seins‘ einzubeziehen.
Die­je­ni­gen, die die Anstren­gung des Are­ndt­schen Wer­kes ken­nen, die ‚klas­si­sche Art der Wahr­heit, sei es im wis­sen­schaft­li­chen oder mora­li­schen Sin­ne vom Poli­ti­schen fern­zu­hal­ten - da sie die­ses und die Frei­heit not­wen­dig zer­stö­ren muß -, wer­den viel­leicht ermes­sen kön­nen, was dies für das ‚Ver­ste­hen‘ des Poli­ti­schen, das, wie wir gese­hen haben, auch das Kon­fron­tie­renkön­nen des­sel­ben impli­ziert, bedeu­ten kann.

Das ist, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, kei­ne Fra­ge der ‚Phi­lo­so­phie‘. Wie es eben­so­we­nig eine Fra­ge der ‚Psy­cho­lo­gie‘ ist, wenn, wie Samu­el Weber es ein­mal genau for­mu­liert hat, bei Freud es nicht dar­um geht, ein Wis­sen über das Unbe­wuß­te in das ‚bestehen­de‘ - erklä­ren­de und begrün­den­de - Wis­sen­schafts­wis­sen ein­zu­glie­dern, son­dern dar­um, ein ande­res Ver­hält­nis zwi­schen dem Wis­sen und dem Nicht-Wis­sen her­zu­stel­len, das nicht ‚theo­re­tisch‘ ist, son­dern auch die Mög­lich­keit eines ande­ren ‚arbei­ten­den Bezu­ges‘ auf das uns invol­vie­ren­de Ver­hält­nis bei­der impli­ziert. Und eben­so­we­nig dreht es sich bei D.W. Win­ni­cott um ‚Kin­der­psy­cho­lo­gie‘, wenn es doch bei ihm genau dar­um geht, eine ‚arbei­ten­de‘ Erfahr­bar­keit jenes ‚Zwi­schen‘, jenes ‚Über­gangs­rau­mes‘ her­aus­zu­ar­bei­ten, der, da er weder ’sub­jek­tiv‘ noch ‚objek­tiv‘ ist, weder in der Psycho-, noch in der Sozio­ono­to­lo­gie der Moder­ne einen Platz hat. Kei­nen Platz hat, da er die Ermög­li­chung nicht nur unse­rer Welt und unse­res Spie­len­kön­nens ist, son­dern auch, spe­zi­fi­scher noch, die Ermög­li­chung des Poli­ti­schen, der Frei­heit und des Han­deln­kön­nens im Are­ndt­schen Sinn.
Nir­gend­wo fin­den wir einen bes­se­ren Zugang zu der Are­ndt­schen Gebürt­lich­keit und zu ihrer Ver­knüpft­heit mit dem im meta­pho­ri­sier­ten Öffent­lich­keits­raum ermög­lich­ten Han­deln­kön­nen - die auch bei sonst Are­ndt-geneig­ten Köp­fen, wie dem Hel­mut Dubiels, nur Abwehr­be­grif­fe pro­vo­ziert - als in die­sem ‚Onto­lo­gie­durch­bruch‘ Winnicotts.

Wir kön­nen hier nicht mehr ein­zeln auf die ande­ren zwei Momen­te des Lefort’schen Ein­schnit­tes ein­ge­hen, die mit dem Moment der Erfahr­bar­keit der ’sozio­on­to­lo­gi­schen‘ Rele­vanz des tota­li­tä­ren Ein­bruchs ein­her­ge­hen. Was uns aber vom Gesag­ten her kla­rer sein dürf­te, ist: im poli­ti­schen Den­ken Leforts, arbei­tet der Riss, der onto­lo­gi­sche Durch­bruch des Den­kens, viel­leicht das ers­te mal voll auf das Poli­ti­sche gewen­det. Die­ses ‚bekommt‘ dann eine gänz­lich ande­re Wirk­lich­keits­art als die, die ihr, im main­stream der Poli­tik­wis­sen­schaft der Moder­ne, die mit dem Demo­kra­ti­schen der Demo­kra­ti­schen Fra­ge und mit der Frei­heit sel­ber immer im clinch lag, zuge­wie­sen wur­de, sei es als funk­tio­na­les Macht­han­deln, sei es als ein, in das funk­tio­nal-struk­tu­rel­le ein­ge­bet­te­tes und in die­sem Sin­ne sekun­där sym­bo­li­sches Han­deln. Es geht bei Lefort auch nicht um das Poli­ti­sche im Sin­ne einer - das Zwi­schen ver­feh­len­den - Mas­sen­psy­cho­lo­gie, die die geschicht­li­chen Wir-Wei­sen letz­lich nur als patho­lo­gi­sche Phä­no­me­ne (von der Ich-Sou­ve­rä­ni­tät aus gese­hen) betrach­ten kann. Es geht ihm aber schließ­lich auch nicht um einen rein ’säku­la­ri­sier­ten Innen­raum‘ der mensch­li­chen Wahl- und Ent­schei­dungs­hand­lun­gen, in den eini­ge Inter­pre­ten sowohl Leforts Den­ken, als auch das Den­ken Han­nah Are­ndts hin­ein­zwin­gen wol­len, um es sozi­al­wis­sen­schaft­lich objek­tiv kom­pa­ti­bel zu machen.
Lefort schreibt: „Wir kön­nen das Poli­ti­sche nur unter der Bedin­gung mit der Insi­tu­ie­rung des Sozia­len, mit den Form­prin­zi­pi­en die die Form des Sozia­len gene­rie­ren, gleich­set­zen, wenn wir gleich­zei­tig aner­ken­nen, daß das Poli­ti­sche sich nicht auf eine rei­ne Wahl (im Sin­ne, müs­sen wir hin­zu­fü­gen, von­’Choix‘, von ‚choice‘ oder auch von ‚Ent­schei­dung‘; Z.Sz.) redu­zie­ren läßt, nicht ein­mal auf eine, als ‚unbe­wußt‘ ange­se­he­ne Wahl.“ Dies bedeu­tet dann auch die Aner­ken­nung, daß das Poli­ti­sche „zur glei­chen Zeit von einer Auf­ar­bei­tung und von einer Prü­fung (épreuve) der human con­di­ti­on“ unter his­to­risch „gege­be­nen Umstän­den Zeug­nis ablegt.“

Von hier aus kön­nen wir auch die Unmög­lich­keit ermes­sen, die Demo­kra­ti­sche Fra­ge in den rei­nen Objek­ti­vi­täts­raum der Sozi­al­wis­sen­schaf­ten ein­zu­schlie­ßen. Das bedeu­tet selbst­ver­ständ­lich kei­nen ‚anti-wis­sen­schaft­li­chen‘ Bias, son­dern eine ande­re Wahr­neh­mung ihrer Exklusivansprüche.

Die­se Ein­schlie­ßung, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, ist fast immer mit ungu­ten poli­ti­schen Kon­se­quen­zen in der poli­ti­schen Beur­tei­lung der Bedin­gun­gen des Demo­kra­ti­schen und der mehr­di­men­sio­na­len Wirk­lich­keits­wei­sen der­sel­ben ver­knüpft. Sie impli­ziert meis­tens nicht nur eine Exor­zie­rung des ‚Gespens­tes der Frei­heit‘, son­dern auch die sei­ner sym­bo­li­schen Geschwis­ter ‚Volk‘ und ‚poli­ti­sche Nati­on‘, die eben­so­we­nig ein­deu­tig zu machen sind, wie es sel­ber. Sie gehö­ren zum Über­tra­gungs­raum des okzi­den­tal-demo­kra­ti­schen, wie das Repu­bli­ka­ni­sche und sei­ne polishaf­ten und bibli­schen Dimen­sio­nen. Dort wo es von ihnen kei­ne Spur gibt, ist auch das auf­rech­te demo­kra­ti­sche Wir kaum gese­hen wor­den. Kei­ne der bös­ar­ti­gen Ver­wand­lun­gen des Zwi­schen­rau­mes zwi­schen ‚Staat‘ und ‚Gesell­schat‘ kann ihre geschicht­li­che Bedeut­sam­keit auslöschen.
In den viel­fa­chen Fra­ge­wei­sen der Demo­kra­ti­schen Fra­ge schließ­lich, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, die wir, wie oben gesagt, als Momen­te einer neu­en Kon­stel­la­ti­on am Aus­gang die­ses Jahr­hun­derts ver­ste­hen möch­ten, ‚arbei­ten‘ sowohl die hori­zont­ver­än­dern­den Ereig­nis­se, als auch die Denk­durch­brü­che von denen wir gespro­chen haben. Dies gilt von den Wer­ken Ernes­to Laclaus und Chan­tal Mouf­fes, eben­so wie von den letz­ten Wer­ken Ágnes Hel­lers und Ferenc Fehérs, von denen Gian­ni Vat­ti­mos und Dick Howards, von denen Rei­ner Schür­manns und Jean Luc Nan­cys, von denen Jac­ques Der­ri­das und Phil­ip­pe Lacoue-Labar­thes, von denen Adam Mich­niks und Mihá­ly Vaj­das, von denen Mar­ga­ret Cano­vans und Simo­na For­tis und von denen vie­ler Ande­rer, die gar nicht mehr auf­zu­zäh­len sind. Wir sehen heu­te auch, wie die Denk- und Erfah­rungs­wei­sen eines Rein­hart Kosellecks oder eines Ernst Voll­raths die­se ‚Kon­stel­la­ti­on‘ mit vor­be­rei­tet haben.

Mer­ken wir, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te: fast nichts von einer Kon­stel­la­ti­on, von die­ser viel­fa­chen Öff­nung der Demo­kra­ti­schen Fra­ge, von der Wei­se wie sie uns mehr-
stim­mig auch mit der Fra­ge kon­fron­tiert, in wel­cher Art von Geschich­te wir leben, war noch vor zwan­zig Jah­ren sicht­bar. D.h., zu dem Zeit­punkt, als Han­nah Are­ndt, die die­se Fra­ge viel­leicht am ent­schei­dens­ten, aber allein und fast iso­liert, eröff­net hat, starb.
Fast eben­so­we­nig sicht­bar war eine Fra­ge, die mit der Demo­kra­ti­schen Fra­ge ver­wandt ist und direkt oder indi­rekt an eine ande­re, ver­wand­te­re Dimen­si­on des Are­ndt­schen Den­kens und Mer­ken­kön­nens anknüpft. Ich mei­ne die ‚Ame­ri­ka­ni­sche Fra­ge‘, nicht mehr als die Fra­ge nach der ame­ri­ka­ni­schen Beson­der­heit, wie sie in der Poli­tik­wis­sen­schaft jahr­zehn­te­lang gestellt wur­de, aus dem - onto­lo­gisch ver­si­cher­ten - Glau­ben her­aus, daß das zur Natur der bür­ger­li­chen Gesell­schaft zuge­hö­ri­ge Poli­ti­sche in West­eu­ro­pa ’nor­mal‘ zu Tage kam. Ich mei­ne jene Fra­ge, die an Hand des in Ame­ri­ka weni­ger ver­schwun­de­nen ‚Zwi­schens‘ der ‚poli­ti­schen Nati­on‘, der ande­ren Bezie­hung von Innen/Außen, auch in der Lage ist nach Euro­pa ‚zurück­zu­fra­gen‘. Vie­le von uns wis­sen, wie wich­tig es auch für sie sel­ber war, in den Wer­ken J.G.A. Pocock’s, Micha­el Wal­zers und vie­ler ande­rer, die­se Fra­ge wahrzunehmen.

Von hier aus kön­nen wir auch eine ande­re Beleuch­tung auf das wer­fen, was wir am Anfang des Vor­trags als ‚Dis­kre­panz‘ zu arti­ku­lie­ren ver­sucht haben. An die­sem Anfang, um nicht vor­zu­grei­fen, muß­ten wir gleich­sam einen ‚direk­ten‘ Zugang zu dem wäh­len, was bei Han­nah Are­ndt im sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen oder auch rein poli­tisch-mora­li­schen nicht auf­geht. Wenn aber, lie­be Freun­din­nen und Tagungs­gäs­te, die schon breit sicht­bar gewor­de­ne Kon­stel­la­ti­on der Demo­kra­ti­schen Fra­ge inzwi­schen gera­de um die­ses ‚was nicht auf­geht‘ her­um ent­ste­hen könn­te, ist das Werk Han­nah Are­ndts nicht mehr iso­liert und allein. Sie hat ihren, viel­leicht auch nur ihren ers­ten poli­tisch-den­ke­ri­schen Über­tra­gungs­raum gefun­den. Den, den sie mit­ge­schaf­fen hat.

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der Text ist die erwei­ter­te Fas­sung des Vor­tra­ges vom 26.11.1994