Sowohl der Repu­bli­ka­ner Geor­ge Bush seni­or, als auch der Demo­krat Bill Clin­ton hiel­ten Hel­mut Kohl, wie gele­gent­lich ver­merkt wur­de, für den größ­ten Staats­mann der euro­päi­schen Nach­kriegs­ge­schich­te. Das ent­spricht etwa dem Rang, den Han­nah Are­ndt Win­s­ton Chur­chill zuwies, der, dar­an sei kurz erin­nert, als einer der ers­ten die her­auf­däm­mern­de tota­li­tä­re Gefahr erkann­te. Vie­le West­deut­sche hin­ge­gen hal­ten Hel­mut Kohl nach wie vor für einen pro­vin­zi­el­len Töl­pel, dar­an ändert auch die pflicht­schul­digst her­un­ter­ge­heu­chel­te Lei­er vom ewig Unter­schätz­ten nichts. Die ein­ge­bil­de­ten Nar­ren wer­den erst auf­wa­chen, wenn sie gegen die Wand gelau­fen sind.

Wie kann es sein, dass ein und die­sel­be Per­son so unter­schied­lich beur­teilt wird? Ist das eine rich­tig, das ande­re falsch? Oder ist richtig/falsch gar kein ange­mes­se­ner kate­go­ria­ler Rah­men? Die Kraft, die in Urteils­kraft steckt, fällt, wie jeder im direk­ten Wett­be­werb erfah­ren kann, mal stär­ker, mal schwä­cher aus. Erst durch Erfah­rung gelangt man zu einer ange­mes­sen Einschätzung.

Am Phä­no­men ‚Kohl im Urteil sei­ner Zeit­ge­nos­sen‘ zei­gen sich jedoch erstaun­li­che Kon­ti­nui­tä­ten. Vor acht­zig Jah­ren wur­de ein mili­tä­risch völ­lig uner­fah­re­ner Ers­ter Welt­kriegs­ge­frei­te zum größ­ten Feld­herrn aller Zei­ten hoch­sti­li­siert, eine, wie sich spä­ter her­aus­stell­te, gran­dio­se Über­schät­zung, bes­ser gesagt, ein ekla­tan­ter Man­gel an poli­ti­scher Urteils­kraft mit nicht ganz uner­heb­li­chen Fol­gen. Heu­te wird eine poli­tisch völ­lig uner­fah­re­ne Phy­si­ke­rin aus pro­tes­tan­to-sta­li­nis­ti­schem Hau­se zur Ret­te­rin des frei­en Wes­tens ver­klärt. Ver­ber­gen sich hin­ter der Vor­stel­lung der Stun­de Null lang­fris­tig wirk­sa­me Kon­ti­nui­tä­ten, die man geflis­sent­lich über­se­hen hat? Erst kürz­lich bemerk­te einer, dass sich an den Sit­ten und Gewohn­hei­ten trotz Ausch­witz erstaun­lich wenig geän­dert hät­te. Das trifft offen­bar auch für die Defi­zi­te der poli­ti­schen Urteils­kraft in beson­de­rer Wei­se zu.

Kohl erhielt sei­ne ers­ten poli­ti­schen Prä­gun­gen in einem katho­li­schen Wider­stands­mi­lieu. Die katho­li­schen Milieus erwie­sen sich als deut­lich resis­ten­ter gegen­über der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ideo­lo­gi­sie­rung als die pro­tes­tan­ti­schen Gegen­den. Das mag auch daher kom­men, dass in ihnen sich an das Land gebun­de­ne Sit­ten und Gewohn­hei­ten mit stär­ke­ren Behar­rungs­kräf­ten aus­ge­bil­det hat­ten, wäh­rend es die Pro­tes­tan­ten oft nur zu einer gemein­sa­men Gesin­nung brach­ten. Mer­kel dage­gen ist 1954 im frei­en Ham­burg als Toch­ter eines evan­ge­li­schen Theo­lo­gen gebo­ren, wur­de aber von Ihrem Vater im Alter von weni­gen Mona­ten gut ein Jahr nach der Nie­der­schla­gung des Volks­auf­stan­des in der DDR in die Dik­ta­tur ver­schleppt. Frei­heit kann dem Man­ne nicht viel bedeu­tet haben. Nichts lie­fert indes ein bes­se­res Urteil über die­se Dik­ta­tur als die Gesich­ter der Men­schen, die mit nichts als dem, was sie am Lei­be tru­gen, die kurz­fris­ti­gen Öff­nun­gen des eiser­nen Vor­hangs im Som­mer 1989 in Ungarn zur Flucht nutzten.

Die Kar­di­nal­feh­ler, die Mer­kel am lau­fen­den Band pro­du­ziert, wer­den im Inland gläu­big beseelt beschwie­gen, füh­ren aber im Aus­land längst zu deut­li­chen Abwen­dun­gen. Nicht nur die erfah­re­nen Eng­län­der, auch die Chi­ne­sen, so war zu lesen, ver­ste­hen nicht, wie man per­ma­nent der­art ‚pri­mi­ti­ve Feh­ler‘ machen kann. Sol­che Anfän­ger­feh­ler sind Kohl sel­ten unter­lau­fen. Wenn es dar­auf ankam, war er da. Was die Medi­en von ihm mora­lisch skan­da­li­sier­ten, war poli­tisch betrach­tet, meist nur hei­ße Luft, wes­we­gen er sie, ihrem Rang gemäß, nicht son­der­lich ernst nahm. Sie räch­ten sich auf Ihre Art, aber lern­ten nichts dazu. Mer­kel dage­gen ist von der ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung abhän­gig und züch­tet ihr media­les Hof­schran­zen­mi­lieu, das inzwi­schen fast schon jeden Tag neue Höchst­stän­de an Nie­der­tracht erklimmt. Für brauch­ba­re Ana­ly­sen zur Lage der Nati­on muss man in aus­län­di­schen Zei­tun­gen oder unab­hän­gi­gen Blogs stö­bern. Wäh­rend der deut­sche Glau­bens­krieg die Lei­den­schaf­ten absor­biert, sor­tiert sich das glo­ba­le Macht­ge­fü­ge neu. Deutsch­land bald wie­der allein zu Haus?

Kohl ver­trat das Land. Das Land ist weder die Nati­on, die Repu­blik noch die Zivil­ge­sell­schaft. Mer­kel dage­gen hat zu Land kei­ner­lei Bezug, sie ist in einem ver­gleich­ba­ren Sin­ne land­fremd wie die Jako­bi­ner, die Bol­sche­wi­ken oder die Alt­her­ren­rie­ge der SED. Des­halb müs­sen im Neu­en Deutsch­land die Zäu­ne des Sag­ba­ren immer enger gezo­gen wer­den. Am Ende lässt sich die ‚Bevöl­ke­rung‘ nur noch mit Gewalt bei der Stan­ge hal­ten. Wer noch einen Sinn für Frei­heit hat­te, ist längst davon gelau­fen oder ver­steckt sich in der inne­ren Emi­gra­ti­on. Nie­mand hat die Absicht, die Mei­nungs­frei­heit ein­zu­schrän­ken, tönt es heute.

Mer­kel muss ihre Freun­de unter all den ande­ren Ent­wur­zel­ten suchen, das sichert zwar den Bei­fall der ort­lo­sen Welt­bür­ger, ver­schafft aber kei­ner­lei Auto­ri­tät im Land. Auch bei den Nach­barn, die ihr Land ver­tre­ten, ver­sagt die­se ‘Kunst’. Dem media­len Höf­lings­mi­lieu könn­te es bald so gehen, wie einst dem Adel in Ver­sailles. Die nur noch um sich selbst Dre­hen­den braucht nie­mand mehr.

Wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen im Pro­zess der Wie­der­ver­ei­ni­gung fie­len nicht im Hin­ter­zim­mer, son­dern auf öffent­li­chen Plät­zen im direk­ten Kon­takt mit den Ver­sam­mel­ten. Kohl hat­te sein Ohr bis tief ins Land hin­ein. Mer­kel ist da längst ent­rückt. Kohl hat­te ver­stan­den, dass man als Land­mann auf sei­ne Nach­barn ange­wie­sen ist, denn die räum­lich Nächs­ten, die erst das Chris­ten­tum entor­tet hat, sind die ers­ten, die mit dem Was­ser­ei­mer vor der Tür ste­hen, wenn die eige­ne Hüt­te brennt. Die Alten wuß­ten das noch, man kann es schon bei Hesi­od nach­le­sen. Heu­te braucht man sich nur aus­ma­len, was wohl gesche­hen wird, wenn wir mit die­ser Stüm­pe­rin in eine Lage gera­ten, in der wir auf Polen, Ungarn oder irgend einen ande­ren unse­rer Nach­barn ange­wie­sen sind.

Wäh­rend bei Mit­te­rand und Kohl die Unter­schie­de vor allem im Pro­zess der Wie­der­ver­ei­ni­gung hart auf­ein­an­der­prall­ten, fügen sich in der Merkel/Macron Achse
die fran­zö­sisch-jako­bi­ni­sche Tra­di­ti­on, den EINEN Volks­wil­len zu voll­stre­cken, und die sta­li­nis­ti­sche Tra­di­ti­on der füh­ren­den Rol­le der Par­tei, die jetzt nur noch aus Mer­kel besteht, fast wie von selbst wie­der zusam­men. Es könn­te durch­aus pas­sie­ren, dass bei­de in ihrer Uner­fah­ren­heit in die Fal­le des Sou­ve­räns lau­fen und wir ihnen - wie­der - sagen müs­sen, dass der Platz des Sou­ve­räns leer ist.