Anmer­kun­gen zu: „Von der Idee, kon­ser­va­tiv zu sein

Nach Bad Lan­gen­sal­za kamen wir eher zufäl­lig. Die thü­rin­gi­sche Kur­stadt liegt am Ran­de des Natio­nal­parks Hai­nich, einem UNESCO-Welt­na­tur­er­be, in dem wir wan­dern und die Herbst­far­ben genie­ßen woll­ten. Die Stadt hat­te sich schön gemacht, eigens für sich und die Gäs­te her­aus­ge­putzt, die Fal­ten geglät­tet und viel Far­be auf­ge­legt. Sie emp­fing uns ordent­lich auf­ge­räumt, zum Ver­wei­len ein­la­dend. Her­um­lun­gern­des Gesin­del war nicht zu sehen, kein unan­ge­neh­mer Geruch stör­te den ers­ten Ein­druck und nur ganz weni­ge Gebäu­de zeig­ten Anzei­chen des Ver­falls. Wahr­schein­lich war dort die Eigen­tums­fra­ge noch unge­klärt. All die ande­ren Häu­ser hat­ten auf Ihrer öffent­li­chen Sei­te zu Stra­ße oder Plät­zen hin ihre Indi­vi­dua­li­tät her­vor­ge­ho­ben, jedes sah in Far­be, Form und Fas­sa­den­schmuck anders aus als die Nach­bar­häu­ser und den­noch war ein har­mo­ni­scher, anhei­meln­der Gesamt­ein­druck ent­stan­den. „Acting in con­cert“, jene bekann­te Wen­dung von Edmund Bur­ke, trifft es wohl am bes­ten, denn auch im Kon­zert hat jedes Instru­ment sei­ne eige­ne unver­wech­sel­ba­re Stim­me, die ihren Teil zum Gesamt­ein­druck bei­trägt. Zudem hat­te sich der Kur­ort mit meh­re­ren ange­leg­ten Parks und Gär­ten dem Wett­be­werb gestellt und sich einen Namen als blü­hends­te Stadt Euro­pas gemacht. Es war eine Art von geschenk­tem Glück, selbst­ver­ges­sen in die Wahr­neh­mung all der Schön­hei­ten ein­zu­tau­chen. ‚Inter­es­se­lo­ses Wohl­ge­fal­len‘ hat­te Kant das genannt.

Wer sich noch an den Anblick ver­we­sen­der Ver­wahr­lo­sung erin­nert, den das ‚Para­dies der Werk­tä­ti­gen‘ vor der unter­bro­che­nen Revo­lu­ti­on von 1989 bot, kann sich unser Erstau­nen vor­stel­len. Neu­gie­rig gewor­den frag­ten wir den ein oder ande­ren Laden­in­ha­ber, woher denn die­ser aus dem übli­chen Mit­tel­maß her­aus­ra­gen­de Ein­druck käme. Sie berich­te­ten von Ihrem Bür­ger­meis­ter, der drei­mal hin­ter­ein­an­der gewählt wor­den war und viel für die Stadt und sei­ne Bewoh­ner getan hat­te. Sei­ne Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit war neben­säch­lich, es war ihre Stadt und ihr Bür­ger­meis­ter. Vor allem, das sah man ihren Gesich­tern mit den leuch­ten­den Augen an, hat­te er ihnen nach all den Demü­ti­gun­gen, die sie im Sozia­lis­mus ertra­gen muss­ten, ihren Stolz und ihre Wür­de wie­der­ge­ge­ben. Sie dank­ten es ihm und mach­ten aus einer plan­wirt­schaft­lich funk­tio­na­len Auf­be­wah­rungs­an­stalt eine schö­ne Stadt.

Die Lei­den­schaft, sich zu zei­gen heißt uns Vor­über­ge­hen­de, unse­re Selbst­be­zo­gen­heit zumin­dest kurz­fris­tig auf­zu­ge­ben. Geh nicht acht­los vor­über, lass dir Zeit, schau mich an. Aus dem Wer­ben um Auf­merk­sam­keit, aus dem Anspruch, wahr­ge­nom­men wer­den zu wol­len, ent­steht ein freund­schaft­li­cher, aber stets zwang­lo­ser Bezug zwi­schen dem, der sich zeigt und dem, der es sich zei­gen lässt. Man wird an-, aber nicht fest­ge­hal­ten, könn­te jeder­zeit wei­ter­ge­hen. Tritt in dem Moment der Besit­zer des Hau­ses, des­sen Schön­heit man gera­de bewun­dert, zufäl­lig aus der Haus­tür und bemerkt den stau­nen­den Blick, wie leicht könn­te aus die­ser Gele­gen­heit ein Gespräch zwi­schen dem Ein­hei­mi­schen und dem Frem­den ent­ste­hen. In die­sem Moment wür­de sich der schon bestehen­de Bezug qua­si aus dem Nichts her­aus in einen Zeit-Spiel-Raum zwi­schen dem Ein­hei­mi­schen und dem Frem­den erwei­tern, der vie­les ermög­licht, aber nichts erzwingt. Man könn­te sich über das Objekt der Bewun­de­rung unter­hal­ten, der Ein­hei­mi­sche könn­te in die Rol­le des Gast­ge­bers wech­seln und die Ein­la­dung, die das Haus schon aus­ge­spro­chen hat, an den unge­be­te­nen Gast ver­tie­fen, oder man geht nach ein paar aus­ge­tausch­ten Sät­zen im bei­der­sei­ti­gen Ein­ver­neh­men wie­der freund­lich aus­ein­an­der, wodurch sich der spon­tan ent­stan­de­ne Zeit­spiel­raum wie­der auf­lö­sen, aber eine ange­neh­me Erin­ne­rung blei­ben wür­de. Natür­lich war auch in Bad Lan­gen­sal­za das Pro­blem der Abwan­de­rung der gut aus­ge­bil­de­ten jun­gen Leu­te nicht unbe­kannt, aber man kämpf­te mit Mut, Beharr­lich­keit und einem gemein­sa­men Sinn für Schön­heit dage­gen an.

Zum Auf­takt­kon­zert für das Riga­er Stadt­fest im Jahr 2014, als Riga euro­päi­sche Kul­tur­haupt­stadt war, hat­te Lett­land sei­nen bekann­tes­ten Kom­po­nis­ten, den fast 80-jäh­ri­gen Rai­monds Pauls an den Flü­gel einer eigens für die­se Dar­bie­tung errich­te­ten Büh­ne im Stadt­park gesetzt und ihm neben dem Orches­ter zwei jun­ge kräf­ti­ge Stim­men an die Sei­te gestellt. Als Zuschau­er und -Hörer saßen wir unter frei­em Him­mel auf Bän­ken und wun­der­ten uns zunächst, war­um sich etli­che Ein­hei­mi­sche, die durch ihre für einen West­eu­ro­pä­er unge­wohn­ten Gesichts­zü­ge als sol­che erkenn­bar waren, wäh­rend des Kon­zerts ganz spon­tan immer wie­der zu uns umdreh­ten, bis wir den Anlass ihrer Neu­gier ver­stan­den. Sie woll­ten wis­sen, ob auch uns Gäs­ten ihre Dar­bie­tung gefällt und waren erst zufrie­den, als wir ihnen durch Kör­per­hal­tung, Mimik und Applaus die Fra­ge beant­wor­tet hat­ten. Die erwart­ba­re Tren­nung zwi­schen Büh­ne und Zuschau­er­men­ge ver­wirr­ten die Umschau­en­den durch einen wei­te­ren Unter­schied, der in die­ser Form nur noch sel­ten wahr­nehm­bar ist. Das Kon­zert war nicht nur die Dar­bie­tung einer Büh­ne, son­dern zusätz­lich die der Stadt und des Lan­des, wodurch der Unter­schied zwi­schen gast­ge­ben­den Lands­leu­ten und Gäs­ten den zwi­schen Künst­ler und Publi­kum über­la­ger­te. Das spon­ta­ne und wohl kaum geplan­te oder gar zuvor ver­ab­re­de­te Umschau­en der Ein­hei­mi­schen straf­te zudem jenen Satz Lügen, der ger­ne auf ästhe­ti­sche Urtei­le ange­wandt wird und da lau­tet: „Über Geschmack lässt sich nicht strei­ten“, ein Satz der den Ein­druck erweckt, als ob die Erfah­rung der Schön­heit nur eine rein sub­jek­ti­ve, aber kei­ne Sache des Gemein­sinns sein kön­ne. Tat­säch­lich kam es den Umschau­en­den gera­de auf die Aner­ken­nung durch uns Gäs­te an. Es ging ihnen mehr um die gemein­sa­me Erfah­rung einer Gegen­wär­tig­keit, als um die Gel­tend­ma­chung einer all­ge­mei­nen Wahrheit.

In den letz­ten Sep­tem­ber­ta­gen des Jah­res 1943 ver­dich­te­ten sich im besetz­ten Däne­mark die Gerüch­te, dass die Nazis eine „Juden­ak­ti­on“ pla­nen und in einer Nacht und Nebel Akti­on die haupt­säch­lich in Kopen­ha­gen kon­zen­trier­ten Juden aus ihren Häu­sern holen, in Sam­mel­la­gern zusam­men­trei­ben, auf Schif­fe ver­la­den und in das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger The­re­si­en­stadt oder auch gleich in die Ver­nich­tungs­la­ger depor­tie­ren wür­den. Däne­mark soll­te juden­rein gemacht wer­den. Zwar wuss­te nie­mand Genaue­res, aber die War­nun­gen kamen aus so vie­len unter­schied­li­chen Quel­len, dass der Druck auf die Juden stieg, ange­sichts der Gefahr selbst zu han­deln, das Wich­tigs­te zusam­men­zu­pa­cken, die eige­ne bekann­te Blei­be zu ver­las­sen, kurz­fris­tig anders­wo Unter­schlupf zu suchen und dann nach einer Gele­gen­heit Aus­schau zu hal­ten, Däne­mark an der Küs­te in Rich­tung Schwe­den zu ver­las­sen, das bereit­wil­lig ange­kün­digt hat­te, die däni­schen jüdi­schen Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men. So gut wie alle däni­schen Insti­tu­tio­nen und Zusam­men­schlüs­se, der König und die Par­tei­en, die Kir­chen, Arbeit­neh­mer- und Arbeit­ge­ber­ver­bän­de und zahl­rei­che ande­re Ver­ei­ni­gun­gen des Lan­des hat­ten durch ent­spre­chen­de Pro­test­no­ten den Nazis signa­li­siert, dass sich die Dänen als geein­te Volks­ge­mein­schaft ver­ste­hen und einen Angriff auf die Juden als Angriff auf ihre Art des Zusam­men­le­bens wahr­neh­men wür­den. Die däni­schen Sicher­heits­or­ga­ne hat­ten eigens die Anwei­sung erhal­ten, sich kei­nes­falls aktiv an der „Juden­ak­ti­on“ zu betei­li­gen. Auch Küs­ten­wa­che und Hafen­po­li­zei schau­ten nicht nur ein­fach weg, son­dern unter­stütz­ten in vie­len Fäl­len die Flucht der Juden.

In den ers­ten Okto­ber­ta­gen 1943 wur­de Gil­le­le­ja, ein klei­nes 1700 See­len Fischer­dorf im Nor­den Däne­marks mit jüdi­schen Flücht­lin­gen regel­recht über­flu­tet. Nur weni­ge gelang­ten unmit­tel­bar nach der Ankunft am Hafen noch auf ein Fischer­boot Rich­tung Schwe­den, die meis­ten wur­den chao­tisch irgend­wie auf die Ein­woh­ner­häu­ser ver­teilt. Man schätzt, dass etwa 500 Flücht­lin­ge in fast jedem Haus, auf jedem Spei­cher, hin­ter jeder Schup­pen­wand vor einer jeder­zeit mög­li­chen Raz­zia der Gesta­po ver­steckt wur­den. Eine Grup­pe von etwa 80 Per­so­nen wur­de auf dem Dach­bo­den der ört­li­chen Kir­che ver­steckt. In einem klei­nen Dorf, in dem jeder jeden kennt, ist die ein­zi­ge Dorf­kir­che ein beson­de­rer, ein hei­li­ger gemein­sa­mer Raum. In ihm ver­bin­den sich die Toten mit den Leben­den und den Unge­bo­re­nen. Die Neu­ge­bo­re­nen wer­den eben­so hier getauft, wie die die Mes­se für die Toten hier gele­sen wird. Die Ein­woh­ner waren davon aus­ge­gan­gen, dass eine Kir­che respek­tiert wer­den wür­de und wur­den eines Bes­se­ren belehrt. In der Nacht vom 6. auf den 7. Okto­ber weck­te um drei Uhr früh Gesta­po-Juhl den Toten­grä­ber und zwang ihn, die Kir­che zu öff­nen. Die Juden auf dem Dach­bo­den wur­den ent­deckt und abtrans­por­tiert. Tags dar­auf tra­fen sich spon­tan im Haus des Mecha­ni­kers Peter Peter­sen zehn Bür­ger von Gil­le­le­ja und bil­de­ten ein spä­ter soge­nann­tes „Juden­ko­mi­tee“. Kei­ner von Ihnen hat­te zuvor direkt etwas mit Poli­tik zu tun oder trug admi­nis­tra­ti­ve Ver­ant­wor­tung. Es waren ganz nor­ma­le Bür­ger mit ganz nor­ma­len Beru­fen: Tisch­ler, Leh­rer, Lebens­mit­tel­händ­ler, Dorf­arzt, Mecha­ni­ker. Sie teil­ten weder Gesin­nung noch Ideo­lo­gie. Erst recht waren sie kei­ne Anti­fa­schis­ten. Ihr Gemein­sa­mes war ledig­lich, dass sie alle Ein­woh­ner des­sel­ben Dor­fes waren. Bis auf einen hat­te kei­ner bis­lang irgend­wel­che Erfah­run­gen mit ille­ga­len Akti­vi­tä­ten oder akti­vem Wider­stand, aber alle zehn, die aus unter­schied­li­chen Schich­ten und Milieus spon­tan zusam­men­ge­kom­men waren, hat­ten intui­tiv ver­stan­den, dass mit der gewalt­sa­men Stür­mung Ihrer Dorf­kir­che das Gesetz ihres Dor­fes auf dem Spiel stand. „Es lie­gen meh­re­re spä­te­re Berich­te über die Debat­ten die­ser selbst ernann­ten Akti­ons­grup­pe vor, und es ist wirk­lich erwäh­nens­wert, was die­se Män­ner antrieb: Für sie stand der Ruf von ganz Gil­le­le­ja auf dem Spiel, die Ehre ihres Gemein­de­rats und die aller Bür­ger“ schreibt Bo Lide­gaard1. Die Grup­pe der Zehn orga­ni­sier­te den Trans­fer der Juden aus dem Dorf in umlie­gen­de Som­mer­häu­ser und klei­ne Höfe, die Ver­pfle­gung und Ver­sor­gung mit benö­tig­ter Klei­dung und die Ver­tei­lung auf die Fischer­boo­te, die sie in den nächs­ten Tagen nach Schwe­den in Sicher­heit brin­gen soll­ten. In zahl­rei­chen ande­ren däni­schen Küs­ten­or­ten waren spon­tan aus den bestehen­den Dorf­ge­mein­schaf­ten ver­gleich­ba­re Räte ent­stan­den, die das Schick­sal der däni­schen Juden ent­schei­dend beein­fluss­ten und der Welt ein ein­zig­ar­ti­ges Bei­spiel gaben, das, so muss man bedau­ernd hin­zu­fü­gen, noch kaum ver­stan­den wur­de. Für die han­deln­den Dänen wur­de es eine prä­gen­de Erfah­rung, die Ger­da, die Frau des Rek­tors und Reli­gi­ons­leh­rers Ber­tel­sen, im Rück­blick so aus­drück­te: “Es ist, als ob man zuvor nie ver­stan­den habe, was Leben heißt.“2

Drei klei­ne, loka­le Geschich­ten, in denen als han­deln­des Sub­jekt ein „Wir“ in Erschei­nung tritt, des­sen gemein­sa­mes und her­vor­ste­chen­des Merk­mal sei­ne Orts­ge­bun­den­heit ist. Land und Leu­te sind hier eine nach­bar­schaft­li­che Ver­bin­dung ein­ge­gan­gen, die man mit dem bei uns außer Gebrauch gera­te­nen Wort „Lands­leu­te“ bezeich­net. Kein Glau­be an die glei­che Idee, kein Bund mit einem höchs­ten Wesen, son­dern einer, des­sen tra­gen­des Ele­ment der gemein­sam bewohn­te Raum ist. Die­se orts- und erd­ge­bun­de­nen „Wirs“ haben etwas Äuße­res gemein­sam, das von ihnen allen geteilt wird, kei­nem ein­zel­nen gehört, zu dem sie aber gehö­ren, das von der Gene­ra­ti­on davor geerbt und an die nächs­te wei­ter­ver­erbt wird und das von allen erfah­ren wer­den kann. Ob die Stadt schön oder häss­lich, ob die Land­schaft blü­hend oder ver­wüs­tet, ist kein bloß ‚sub­jek­ti­ver‘ Ein­druck. Sol­che „Wirs“ bil­den heu­te die gro­ße Aus­nah­me gegen­über den Mas­sen an Ent­wur­zel­ten, die wie her­un­ter­ge­fal­le­nes Laub so halt­los gewor­den sind, dass die Blät­ter wider­stands­los von jedem win­di­gen Gerücht auf­ge­wir­belt und vor sich her­ge­trie­ben wer­den kön­nen. Das Buch von Bo Lide­gaard über die Ret­tung der däni­schen Juden, das in der deut­schen Über­set­zung mit „Die Aus­nah­me“ beti­telt ist, lau­tet im eng­li­schen Ori­gi­nal „Coun­try­men“.

Wer etwas in Euro­pa her­um­ge­reist ist, wird viel­leicht bemerkt haben, dass man sol­chen Aus­nah­men eher an der Peri­phe­rie, als im Zen­trum begeg­nen kann, in den bal­ti­schen Repu­bli­ken, den Visegrad­staa­ten, auch im Süden Euro­pas. In Sara­je­vo, einer Stadt, in der die Gefahr des Krie­ges noch ganz real ist, wur­de mir vor Kur­zem erzählt, ler­nen die Kin­der auf den höhe­ren Schu­len als zwei­te Fremd­spra­che Deutsch und man lehrt sie, dass die kleins­te Ein­heit der Gesell­schaft die Fami­lie sei, ein bemer­kens­wer­tes Para­dox, erschei­nen doch gera­de Deutsch­land und Frank­reich, der einst gerühm­te ‚Motor‘ Euro­pas, heu­te als die Län­der, in denen der Zer­stö­rungs­grad, die inne­re Zer­set­zung und Ent­wur­ze­lung am wei­tes­ten fort­ge­schrit­ten sind. Das Ent­setzt-Sein in sei­ner dop­pel­ten Bedeu­tung ist zum Signum des ‚west­li­chen‘ Zeit­geis­tes geworden.

Drei Aus­nah­me-Geschich­ten, die uns dar­auf ein­stim­men, war­um nicht nur Leser im All­ge­mei­nen, son­dern gera­de wir Deut­schen, wie Dou­glas Mur­ray in sei­nem an uns adres­sier­ten Vor­wort aus­drück­lich betont, der Stim­me von Roger Scrut­on und der kon­ser­va­ti­ven Tra­di­ti­on, die er fort­setzt, Gehör schen­ken soll­ten, denn die Aus­nah­me ist, man den­ke an Carl Schmitt, ein guter Ort, um von dort aus die Regel zu ver­ste­hen. Auch Han­nah Are­ndt wuss­te das beson­de­re Ver­ste­hens­po­ten­zi­al der Paria­po­si­ti­on zu nut­zen. Roger Scrut­on ist für uns nicht nur irgend­ei­ne Stim­me, eine Mei­nung im Stim­men­ge­wirr der prin­zi­pi­ell gleich­gül­ti­gen Mei­nun­gen, son­dern eine her­aus­ra­gen­de Aus­nah­me­stim­me, die etwas für uns auf­be­wahrt hat, was durch den Nor­mal­fall zu ver­schwin­den droht. Es kommt nicht auf die Men­ge, son­dern gera­de auf den an, der dem Wahn der Men­ge, mit sich iden­tisch zu sein, wider­steht. Die angel­säch­si­sche Tra­di­ti­on hat das bes­ser ver­stan­den, wie man an Fil­men wie „Die zwölf Geschwo­re­nen“ oder „Quiz Show“ erfah­ren kann. Wenn die Euro­pä­er wie­der dem Wahn ver­fal­len, die Mensch­heit zu sein, blei­ben die Eng­län­der lie­ber die Eng­län­der.3

Wer han­delt und Wor­um­wil­len und was ermög­licht die­ses Han­deln? Schon die ein­fach schei­nen­de Fra­ge, was die­ses „Wir“ aus­macht, das in die­sen drei Geschich­ten han­delnd her­vor­tritt, öff­net uns einen Zugang zu einer Schlüs­sel­erfah­rung: nach den tota­li­tä­ren Ein­brü­chen des 20. Jahr­hun­derts ste­hen wir, was das Ver­ste­hen poli­ti­schen Han­delns anbe­langt, gewis­ser­ma­ßen mit lee­ren Hän­den da. Wir kön­nen bes­ten­falls sagen, was es nicht ist. Die­ses „Wir“ ist weder eine Klas­se, noch eine sozio­lo­gi­sche Schicht, noch ein Milieu, die­ses „Wir“ han­delt weder inter­es­sen­ge­lei­tet noch irra­tio­nal. Kurz: wer mit den klas­si­schen Kate­go­rien der Poli­ti­schen Phi­lo­so­phie und der, was die Begrün­dungs­on­to­lo­gien anbe­langt, davon abge­lei­te­ten Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten sol­che Erfah­run­gen ver­ste­hen möch­te, kommt schnell an sei­ne Grenzen.

Nach­dem er im deut­schen Dis­kurs­raum lan­ge Zeit weit­ge­hend igno­riert wur­de, sind im Abstand von weni­gen Mona­ten zwei von den zahl­rei­chen Büchern, die der füh­ren­de bri­ti­sche kon­ser­va­ti­ve Den­ker bereits ver­öf­fent­licht hat, in einer deut­schen Über­set­zung erschie­nen. Die „Bekennt­nis­se eines Häre­ti­kers“, über­setzt von Julia Bant­zer, erschie­nen in der Edi­ti­on Son­der­we­ge und „Von der Idee kon­ser­va­tiv zu sein“, über­setzt von Krisz­ti­na Koe­nen und erschie­nen im Finanz­buch­ver­lag. Das etwas Gewich­ti­ge­re scheint mir das Letz­te­re zu sein. Roger Scrut­on unter­schei­det dar­in zwei Sor­ten von Kon­ser­va­tis­mus, einen meta­phy­si­schen, den es als Glau­ben an hei­li­ge und erhal­tens­wer­te Din­ge immer gege­ben habe und einen empi­ri­schen, der erst als Reak­ti­on auf Schlüs­sel­er­eig­nis­se der euro­päi­schen Moder­ne ent­stan­den sei und mit dem er sich vor­zugs­wei­se beschäf­ti­ge. Die euro­päi­schen Schlüs­sel­er­eig­nis­se wie­der­um haben einen mehr eng­li­schen und einen mehr kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Aspekt, wes­we­gen wir uns als ange­spro­che­ne Deut­sche auf Letz­te­ren beschrän­ken, also auf die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on und die eng­li­schen Ant­wor­ten darauf.

Was heißt uns, Roger Scrut­on zu lesen? War­um ihn und war­um jetzt? Hat es etwas mit der wach­sen­den Wahr­neh­mung der Gefähr­dung zu tun, der eine rechts­staat­li­che Demo­kra­tie aus­ge­setzt ist, wenn die „Iden­ti­tä­ten eher kon­fes­sio­nell als ter­ri­to­ri­al defi­niert sind“?4 Eine Ein­sicht in das, was auf dem Spiel steht, die auch den däni­schen klas­si­schen Phi­lo­lo­gen Hart­vig Frisch aus­zeich­ne­te, der mit dem 1933 erschie­ne­nen Buch „Pest over Euro­pa“ sei­nen Lands­leu­ten ein Ver­ständ­nis der Gefahr nahe­leg­te, die von Bol­sche­wis­mus, Faschis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus der däni­schen Demo­kra­tie droh­te und damit maß­geb­lich zur däni­schen „Aus­nah­me“ bei­trug. Hat es etwas mit dem neu­er­li­chen Wie­der­auf­le­ben des revo­lu­tio­nä­ren Mythos zu tun, für den Rechts­ord­nun­gen und Demo­kra­tie ent­behr­lich schei­nen, wenn es um die revo­lu­tio­nä­re Her­stel­lung ganz neu­er Wirk­lich­kei­ten, die Schöp­fung des neu­en Men­schen geht? Hat es etwas damit zu tun, dass uns im Namen einer selbst­ge­wis­sen Wahr­heit ein Ver­hal­ten auf­ge­zwun­gen wer­den soll, das kei­nen Frei­heits­spiel­raum mehr zulas­sen kann und alles einer ein­zi­gen tota­len Vor­schrift unter­wer­fen will? Hat es etwas damit zu tun, dass gera­de wir West-Deut­schen uns immer noch im unver­stan­de­nen Erwar­tungs­ho­ri­zont der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on bewe­gen und ver­säumt haben, sie ein­zu­klam­mern, zu been­den und unse­rem Land die Form zu geben, die ihm und sei­ner Geschich­te ange­mes­sen ist?

Mit der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on wur­de die poli­ti­sche Phi­lo­so­phie prak­tisch. Sie inter­pre­tier­te nicht nur die Welt, sie änder­te sie und ver­lieh mit der Revo­lu­ti­on dem Jahr­hun­dert der Auf­klä­rung ihren krö­nen­den Abschluss, so zumin­dest ein weit ver­brei­te­tes Selbst­ver­ständ­nis. Mit die­sem Ein­drin­gen der Phi­lo­so­phie in die Poli­tik wur­de jedoch etwas sicht­bar, was in der Zeit der macht­fer­nen und von jeg­li­cher poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung abge­son­der­ten phi­lo­so­phi­schen Gesell­schaf­ten ver­deckt blieb: die Her­kunft der klas­si­schen Phi­lo­so­phie aus einem radi­ka­len Feind­schafts­ver­hält­nis zum Poli­ti­schen. Der Jako­bi­nis­mus eta­blier­te ein ideo­lo­gi­sches Sys­tem iden­ti­tä­rer Ent­spre­chun­gen, in dem die Idee der Sou­ve­rä­ni­tät mit der Idee des Vol­kes und der einer ‚rei­nen Demo­kra­tie‘ in Eins kon­ver­gier­ten. Für Abwei­chun­gen, gar Unter­schie­de war in die­sem Sys­tem kein Platz, wes­halb der Adel als Sym­bol des Unter­schieds ihr ers­tes Opfer wur­de. Die ima­gi­nä­re Gemein­schaft der Gleich­ge­sinn­ten geriet mit der geschicht­lich gewach­se­nen Gemein­schaft der Lands­leu­te in einen Kon­flikt, der nur gewalt­sam, mit­hil­fe des Ter­rors zu lösen war. Die Jako­bi­ner „bedien­ten sich der Spra­che des Not­stands, ver­setz­ten das fran­zö­si­sche Volk in Alarm­stim­mung und spra­chen von bevor­ste­hen­der Ver­nich­tung, wenn nicht sofort etwas geschä­he. […] Im Kata­stro­phen­fall muss eine zen­tra­le Macht ‚von oben‘ alle Ent­schei­dun­gen tref­fen. Eine Not­stands­si­tua­ti­on kann nur gemeis­tert wer­den, wenn die Gesell­schaft als Gan­zes mobi­li­siert wird. Dann braucht es eine Befehls­struk­tur, die das Volk unter dem Ban­ner eines gemein­sa­men Ziels ver­eint.“5 Damit ver­wüs­te­ten die fran­zö­si­schen Revo­lu­tio­nä­re, die sich als Vor­hut der Mensch­heit ver­stan­den, das Poli­ti­sche und führ­ten zwei Ele­men­te in die Poli­tik ein, die wir - wider alle Erfah­rung - bis heu­te noch nicht wie­der dar­aus her­aus drän­gen konn­ten: die Herr­schaft des Einen und den Ver­nich­tungs­krieg. Was Edmund Bur­ke ein „geo­me­tri­sches und arith­me­ti­sches Staats­expe­ri­ment“6 nann­te, bedeu­te­te in der Pra­xis, dass eine selbst­ge­wis­se und nicht wei­ter bezwei­fel­ba­re Ver­nunft­wahr­heit nur plan­voll von der Idee in die Wirk­lich­keit gesetzt wer­den konn­te, wenn zuvor alles gewach­se­ne und vor­han­de­ne Wirk­li­che pla­niert wur­de. Ver­nunft­wahr­hei­ten, das unter­schei­det sie von poli­ti­schen Wahr­hei­ten, kom­men, sobald sie ein­mal begrün­det erschei­nen, ohne jeden Bezug auf ande­re aus. Sie gel­ten unbe­dingt und benö­ti­gen weder Gegen­sei­tig­keit, Auto­ri­sie­rung noch Aus­hand­lung. Vor dem, was durch das urtei­len­de Zusam­men­spiel ent­stan­den und für wohn­taug­lich befun­den wur­de, haben sie kei­ner­lei Respekt. Gegen­über der Ver-Wirk­li­chung scheint die Wirk­lich­keit ent­behr­lich. Durch den per­ma­nen­ten Gebrauch sprach­li­cher Wen­dun­gen, die um Ver­wirk­li­chung grup­piert sind, ins­be­son­de­re die aus der Flucht vor der Ver­ant­wor­tung moti­vier­te Selbst-Ver­wirk­li­chung, haben wir ver­lernt, die unge­heu­er­li­che Anma­ßung zu erfas­sen, die dar­in liegt, die aus dem Zusam­men­spiel von Mil­lio­nen intel­li­gi­bler Wesen gewach­se­ne Wirk­lich­keit von einem ein­zi­gen Punkt aus für nich­tig zu erklären.

Ver­nunft­wahr­hei­ten begrün­den einen sequen­zi­el­len Zwang: wenn zwei plus zwei vier ist, dann ist zwin­gend vier plus vier acht und nichts ande­res. Aus der logi­schen Sequenz ent­steht eine rich­ti­ge Rich­tung und damit eine abso­lu­te Unter­schei­dung zwi­schen rich­tig und falsch. Bevor ein poli­ti­sches ‚Wir‘ von Lands­leu­ten über­haupt spon­tan ent­ste­hen könn­te, ist es schon ent­lang einer unüber­wind­li­chen Bar­ri­ka­de gespal­ten, die die­je­ni­gen auf der rich­ti­gen Sei­te von denen trennt, die auf der fal­schen Sei­te ste­hen. Wer auf einer sol­chen Schie­ne fährt, muss sprin­gen, um sich von die­sem Zwang wie­der zu befrei­en. Der feind­se­li­ge Kon­flikt zwi­schen einem Gel­tungs­an­spruch von Ver­nunft­wahr­hei­ten und einem Wahr­heits­ge­sche­hen, das sich zwi­schen den um ihre gemein­sa­me Sache Betei­lig­ten ereig­net, kommt mit der fran­zö­schen Revo­lu­ti­on zum gewalt­sa­men Aus­trag. Wer­den sol­che Ver­nunft­wahr­hei­ten zur Legi­ti­ma­ti­on schein­bar poli­ti­scher Akti­vi­tä­ten erho­ben, erschei­nen spon­tan ent­stan­de­ne Hand­lungs­spiel­räu­me nur noch als aus­zu­räu­men­des Hin­der­nis, in der wei­te­ren Radi­ka­li­sie­rung als kon­ter­re­vo­lu­tio­när. Zum gemein­sa­men Han­deln ist aus die­ser Per­spek­ti­ve kein Platz mehr übrig. Für die Her­stel­lung des Neu­en muss das Alte aus­ge­löscht wer­den, ein Ent­wur­ze­lungs- und Ent­set­zungs­vor­gang, der bis heu­te anhält und mit der Illu­si­on des „Alles muss anders wer­den“ die Mor­gen­rö­te einer neu­en Mensch­heit verbindet.

Zum ande­ren kann das Eine nur herr­schen, wenn die Vie­len kei­ne Mög­lich­kei­ten bekom­men, sich zusam­men­zu­schlie­ßen und ihre Ange­le­gen­hei­ten selbst zu regeln. Loka­le und orts­ge­bun­de­ne „Wirs“ müs­sen an der Ein­fluss­nah­me gehin­dert wer­den. Ent­ste­hen den­noch Grup­pen, die sich Herr­schafts­an­spruch und Gehor­sams­ge­bot nicht fügen wol­len, bleibt nur die gewalt­sa­me Ver­nich­tung. Roger Scrut­on erwähnt János Kádár, den unga­ri­schen Innen­mi­nis­ter unter dem Ráko­si-Regime, der „5000 sol­cher Gemein­schaf­ten nur inner­halb eines Jah­res auf­lö­sen“ ließ: „Blas­or­ches­ter, Chö­re, Thea­ter­grup­pen, die Orga­ni­sa­ti­on der Pfad­fin­der, Lese­zir­kel, Wan­der­ver­ei­ne, pri­va­te Schu­len, kirch­li­che Insti­tu­tio­nen, Wohl­tä­tig­keits­ver­ei­ne zur Unter­stüt­zung der Armen, Dis­kus­si­ons­zir­kel, Biblio­the­ken, Win­zer­ver­ei­ne, Jagd- und Fische­rei­ver­ei­ne.“7 Auch heu­te hat man den Ein­druck, dass immer mehr Ent­schei­dun­gen den loka­len Kör­per­schaf­ten ent­zo­gen und einem büro­kra­ti­schen Zen­trum über­tra­gen wer­den, das weder poli­tisch auto­ri­siert noch legi­ti­miert ist, eine beson­ders per­fi­de Form tota­ler Herr­schaft, die Han­nah Are­ndt „Herr­schaft des Nie­mand“ nann­te, weil jeder zwi­schen­mensch­li­che Bezug dar­in aus­ge­löscht wurde.

Ver­stan­den zu haben, was durch die­ses Ver­wüs­tungs­po­ten­zi­al einer Herr­schaft des Einen auf dem Spiel steht, zeich­net die kon­ser­va­ti­ven Ant­wor­ten auf die gro­ßen Fort­schritts­pro­jek­te der Moder­ne aus, die ent­ste­hen, ‘sobald die Zukunft zum Herr­scher über Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit erklärt wird.“8 Dass auch über den Sinn von Wahr­heit stets poli­tisch gespro­chen wer­den kann, heißt uns Roger Scrut­on in acht Kapi­teln, die jeweils die Wahr­heit einer bestimm­ten Ideo­lo­gie in den Blick neh­men, ihr Sinn­ge­fäng­nis auf­bre­chen und sie wie­der zum The­ma eines freund­schaft­li­chen Gesprächs machen, das, wie alle Gesprä­che, nie zu einem fina­len Ende kom­men kann, solan­ge Men­schen den­ken und immer wie­der neue Men­schen sol­che Gesprä­che suchen.

Schau­en wir Roger Scrut­on bei dem ers­ten die­ser Wahr­heits­ka­pi­tel genau­er über die Schul­ter. „Wahr­heit im Natio­na­lis­mus“ bedeu­tet etwas ande­res als „Wahr­heit des Natio­na­lis­mus“. Scrut­on schlägt einen gro­ßen Bogen von der Idee der Nati­on, wie sie von Siey­és exem­pla­risch aus­ge­drückt wur­de bis zum Euro­pa in Trüm­mern von 1945 und streng genom­men müss­ten wir die­sen Bogen noch min­des­tens bis zum Fall des Eiser­nen Vor­hangs erwei­tern, der erst das gan­ze Aus­maß der Ver­wüs­tun­gen sicht­bar mach­te, das die selbst ernann­te „Avant­gar­de der Mensch­heit“ hin­ter­las­sen hat­te. Wir haben es also wenigs­tens mit drei ver­schie­de­nen Bedeu­tun­gen von Wahr­heit zu tun, der­je­ni­gen, auf die die Idee der Nati­on Anspruch erhebt, die Wahr­heit der Lei­chen­ber­ge, die im Namen sol­cher ‚fik­ti­ver Ideen‘ hin­ter­las­sen wur­den und die all­täg­li­che Wahr­heit der Nati­on, die erfahr­bar war, bevor sie durch die ‚Idee‘ der Nati­on an den Rand gedrängt wur­de. Der Zusam­men­hang zwi­schen „fik­ti­ven Ideen“ und wach­sen­den Lei­chen­ber­gen ist auf den ers­ten Blick jedoch eben­so wenig ersicht­lich, wie die spe­zi­el­le Bedeu­tung der Fran­zö­si­schen Revolution. 

Was als Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on bekannt wur­de, ist streng genom­men weder Fran­zö­sisch noch eine Revo­lu­ti­on im her­ge­brach­ten poli­ti­schen Sinn. Ihr fehlt sowohl das „Wir“, wie Gebun­den­heit und Begren­zung an einen bestimm­ten Raum. Zum einen taucht bezeich­nen­der­wei­se in der fran­zö­si­schen Erklä­rung der Men­schen­rech­te das orts­ge­bun­de­ne „Wir“, das im ame­ri­ka­ni­schen Pen­dant ent­hal­ten ist (‚we hold the­se truths…‘) nicht auf. Zum ande­ren will die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on nicht eine in ihrem Land aus den Fugen gera­te­ne Ord­nung wie­der ein­ren­ken, son­dern einen Neu­be­ginn der Mensch­heit ver­wirk­li­chen. Sie strebt, wie Fran­çois Furet schreibt, gar kei­nen sta­bi­len Zustand ihres Lan­des an, son­dern mar­kiert den Ursprung einer Bewe­gung, der ein ima­gi­nä­res Ver­spre­chen in die Welt setzt, das von kei­nem Ereig­nis ein­ge­löst wer­den kann.9 Die revo­lu­tio­nä­re Idee der fran­zö­si­schen Nati­on ist zugleich mehr und weni­ger als jede poli­ti­sche Nati­on; weni­ger, weil sie von vorn her­ein eine natio­na­le Grup­pe - den Adel - als Fremd­kör­per aus­schließt, womit das Ent­ste­hen­kön­nen eines raum­ge­bun­de­nen „Wirs“ dau­er­haft blo­ckiert ist. Mehr, weil die­se Idee der Nati­on immer schon über die erfahr­ba­re Nati­on hin­aus ist. Sie ver­steht sich als Vor­rei­ter­na­ti­on, die im Namen der gesam­ten Mensch­heit spricht. Mit ihrer Vor­stel­lung des Einen ent­steht gleich­ur­sprüng­lich die Vor­stel­lung des ande­ren, der nicht Geg­ner wer­den kann, son­dern als abso­lu­ter Feind bekämpft wer­den muss. Die Angst vor der Ver­schwö­rung wird ein kon­sti­tu­ti­ves Moment die­ser ideo­lo­gi­schen Iden­ti­tät der Nati­on. Das revo­lu­tio­nä­re Bewusst­sein war in den mal gelehr­ten, mal gehei­men Gesell­schaf­ten vor­be­rei­tet wor­den, die befreit von jeg­li­cher poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung Mei­nun­gen aus­tausch­ten, ein poli­tik- und macht­fer­ner Kon­text mit Fol­gen. Die ima­gi­nä­re Vor­stel­lung der abso­lu­ten Macht ent­stand aus der tat­säch­li­chen Erfah­rung der Ohn­macht her­aus, war also per se a-poli­tisch. Sie bil­de­te sich als Vor­stel­lung, weil sie als Erfah­rung fehl­te. Die als Spie­gel der ima­gi­nä­ren Vor­stel­lung einer abso­lu­ten Macht ent­stan­de­ne Idee des Volks ent­hält damit immer schon einen Bedeu­tungs­über­schuss, der über jedes tat­säch­li­che poli­ti­sche Volk hin­aus­weist und nur die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on zu etwas wer­den lässt, das als uni­ver­sal­ge­schicht­li­ches Bei­spiel von etwas ganz Neu­em fun­gie­ren kann. Kei­ne ande­re Revo­lu­ti­on kam in den Rang einer Mut­ter­re­vo­lu­ti­on, die von Nach­fol­gern als Ursprung einer geschicht­lich not­wen­di­gen, gren­zen­lo­sen Bewe­gung wahr­ge­nom­men wur­de, deren Zweck es ist, alle Unter­schie­de zuguns­ten einer ein­zi­gen Welt, einer ein­zi­gen Mensch­heit aus­zu­lö­schen. Mit der ima­gi­nä­ren Vor­stel­lung der abso­lu­ten Macht ent­stand zugleich die nicht weni­ger ima­gi­nä­re Vor­stel­lung von dem, was die­se Macht bedroht, mit der Fol­ge, dass sich die­se Vor­stel­lung von Macht nur im und durch den per­ma­nen­ten Krieg behaup­ten kann. Der abso­lu­te Feind ist für die abso­lu­te Macht kon­sti­tu­tiv.10

Nach­dem Euro­pa in Trüm­mern lag, schien der Schul­di­ge schnell gefun­den: die Natio­nal­staa­ten sol­len es gewe­sen sein. Die beque­me Erklä­rung hat­te zwei gro­ße Vor­tei­le: man konn­te mit dem Fin­ger auf ande­re zei­gen, war damit jeg­li­cher eige­ner Ver­ant­wor­tung ent­ho­ben und, noch wich­ti­ger, man konn­te an der ‚one world‘ Fik­ti­on der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on fest­hal­ten. Der Anspruch auf Unter­bre­chung wur­de geflis­sent­lich über­hört, man blieb ihm gewohn­ten Fahr­was­ser und ersetz­te die Idee der Nati­on durch die Idee Euro­pa. Die näher lie­gen­de Ein­sicht, dass eine sta­bi­le und gefes­tig­te Nati­on einen tota­li­tä­ren Ein­bruch hät­te ver­hin­dern kön­nen, wie man der däni­schen Aus­nah­me ent­neh­men konn­te, geriet fast über­all in Ver­ges­sen­heit, jedoch im angel­säch­si­schen Sprach­raum weni­ger als im ‚Wes­ten‘. Von Leni Yahils in hebrä­isch ver­fass­ter Pro­mo­ti­on von 1964 gibt es seit 1969 unter dem Titel „The Res­cue of Danish Jewry - Test of a Demo­cra­cy“ eine ame­ri­ka­ni­sche Über­set­zung, aber bis heu­te kei­ne deutsche.

Roger Scrut­on bringt uns jene poli­ti­sche Bedeu­tung von Nati­on wie­der, die zwar nicht immer als Begriff, aber als Erfah­rung eines orts­ge­bun­de­nen “Wir“ jahr­hun­der­te­lang selbst­ver­ständ­lich war, bevor sie durch den phi­lo­so­phi­schen Über­griff und sei­ne Fol­gen der Ver­dam­mung ver­fiel. „Für ein­fa­che Men­schen, die im frei­en Zusam­men­schluss mit ihren Nach­barn leben, bedeu­tet „Nati­on“ ein­fach die his­to­ri­sche Iden­ti­tät und die fort­dau­ern­de Loya­li­tät, die sie in ihren Staa­ten eint. Sie ist der Ers­te-Per­son-Plu­ral der Sess­haf­ten.“11 Der his­to­ri­sche Grund­ge­halt die­ser Erfah­rung ist die freie Stadt, das freie Land, das unter­schie­det die­se Erfah­rung von der macht­fer­nen Erfah­rung jener phi­lo­so­phi­schen Gesell­schaf­ten, in denen sich im 18. Jahr­hun­dert die revo­lu­tio­nä­re Ideo­lo­gie vor­be­rei­tet hat. Die Bin­dung des Rau­mes lös­te nicht nur die Bin­dung des Blu­tes oder des Glau­bens ab, sie zivi­li­sier­te und befrie­de­te, indem die Gewalt, die als Blut­ra­che der Sip­pe oder Rei­ni­gungs­lei­den­schaft der Recht­gläu­bi­gen die Nach­barn gegen­ein­an­der auf­brach­te, in ein gemein­sa­mes Recht über­führt wur­de, das als Gesetz des Rau­mes ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben stif­te­te, bewahr­te und vor Gewalt­ein­brü­chen frei­hielt. Das eng­li­sche ‚com­mon law‘ ist ja nicht nur ein fall­be­zo­ge­nes Recht, son­dern zugleich ein Gewohn­heits­recht, das an das gemein­sa­me Bewoh­nen eines Rau­mes gebun­den ist und sich gegen­über Herr­schafts­vor­schrif­ten von außen zu behaup­ten wuss­te. Die zen­tra­le Figur sol­cher fried­li­cher Räu­me ist der Nach­bar, auf den man - nicht nur in Momen­ten der Gefahr - in vie­ler­lei Hin­sicht ange­wie­sen ist. Man teilt mit ihm nicht nur den gemein­sa­men Raum, son­dern auch die Sit­ten, Gebräu­che und Gewohn­hei­ten, die in Jahr­hun­der­ten ent­stan­den sind, sich ohne gro­ße Brü­che dem Wan­del der Zei­ten anpas­sen und mit jedem ‚nor­ma­len‘ Gene­ra­tio­nen­kon­flikt einen Anteil Neu­es zulas­sen, ohne das Alte in Bausch und Bogen ver­wer­fen zu müs­sen, eine Nor­ma­li­tät, die in der deut­schen Nach­kriegs­ge­schich­te blo­ckiert war. Das ter­ri­to­ria­le „Wir“ ist von ande­rer Art als das reli­giö­se oder eth­ni­sche. Es ermög­licht dem Ein­hei­mi­schen, gegen­über dem Frem­den die Kul­tur der Gast­freund­schaft zu pfle­gen12. Das reli­giö­se Wir dage­gen teilt den Glau­ben und trennt den Raum, es unter­schei­det den Gläu­bi­gen vom Ungläu­bi­gen, ein Bezug von Rein­heit und Gefähr­dung, der nur ent­we­der die völ­li­ge Abson­de­rung von der Welt der ande­ren wie in den frü­hen Klös­tern, oder Kon­ver­si­on, Unter­wer­fung, schlimms­ten­falls Aus­rot­tung zulässt. Nur in ganz weni­gen Städ­ten und meist auch nur für eine sehr begrenz­te Zeit ist es gelun­gen, die Bin­dung des Rau­mes der des Glau­bens über­zu­ord­nen und ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben zwi­schen den abra­ha­mi­ti­schen Reli­gio­nen zu ermög­li­chen, was uns lehrt, dass der Bluts- oder Glau­bens­bru­der ein höchst fra­gi­les Modell für ein poli­ti­sches Zusam­men­le­ben ist, das jeder­zeit in Hass- und Gewalt­aus­brü­chen wie­der aus­ein­an­der­fal­len kann, eine Erfah­rung, durch die auch Euro­pa erst hin­durch gehen muss­te, bevor es den Wert säku­la­rer Rechts­vor­stel­lun­gen zu schät­zen lern­te. Gegen­über der fran­zö­si­schen Ver­kün­di­gung der Brü­der­lich­keit ist dem­nach Skep­sis ange­sagt, zumal die Mus­lim-Brü­der­schaft gegen­wär­tig den gefähr­lichs­ten Angriff auf die euro­päi­sche Wei­se des Zusam­men­le­bens dar­stellt. Man muss hier zwei Arten von Bin­dun­gen, zwei Bedeu­tun­gen von Reli­gi­on unter­schei­den: die Bin­dun­gen des Blu­tes und die der Gesin­nung oder des Glau­bens beru­hen auf einem Ele­ment, das in allen Mit­glie­dern der Gemein­schaft gleich ist. Die Bin­dung des Rau­mes hin­ge­gen beruht auf einem Ele­ment, das nicht in ihnen ist, son­dern zu dem sie alle einen Bezug haben. Aus dem gemein­sa­men Bezug ent­steht ein geteil­tes Zwi­schen. Es han­delt sich um ver­schie­de­ne For­men der Ver­ge­mein­schaf­tung. Aus der einen ent­steht die Mas­se, die man orga­ni­sie­ren und mobi­li­sie­ren muss, aus der ande­ren die Stadt, die am Schön­heits­wett­be­werb teilnimmt.

Keh­ren wir zum Anfang zurück. Apo­ka­lyp­ti­sche Stim­mun­gen sind Kri­sen­sym­pto­me. Sie bezie­hen ihr Über­zeu­gungs­mo­ment aus einer gene­rel­len Kri­se der poli­ti­schen Ord­nung, die sie beschwö­ren, beschleu­ni­gen und gleich­zei­tig ver­hül­len, indem sie ver­hin­dern, dass die tat­säch­li­chen Ursa­chen der Kri­se zum The­ma einer poli­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung wer­den kön­nen13. Als ‚theo­lo­gisch-ideo­lo­gi­sche‘ Deu­tung der Ereig­nis­se kön­nen sie sich nur dort in den Vor­der­grund schie­ben, wo die Fähig­keit oder Bereit­schaft zur poli­ti­schen Deu­tung der Ereig­nis­se zu wenig ver­brei­tet, unter­ent­wi­ckelt oder zu schwach ist. Das exzes­si­ve Befeu­ern sol­cher Stim­mun­gen spielt einem poli­ti­schen Per­so­nal in die Hän­de, das sei­ne Auto­ri­tät längst ver­spielt hat und sich auf demo­kra­ti­schem Wege nicht mehr an der Macht hal­ten könn­te. Wer­den sol­che apo­ka­lyp­ti­schen Stim­mun­gen mit revo­lu­tio­nä­rem Pathos ver­knüpft, gerät die rechts­staat­lich ver­fass­te Demo­kra­tie in exis­ten­zi­el­le Gefahr, denn die Gewalt wird zum not­wen­di­gen Mit­tel der Ver­wirk­li­chung ver­klärt.14 Wird Apo­ka­lyp­tik revo­lu­tio­när, will sie die vor­han­de­ne Tota­li­tät ver­nich­ten und durch eine voll­kom­men neue Tota­li­tät erset­zen. Die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on ende­te im Ter­ror, Napo­le­on ver­wüs­te­te halb Euro­pa. Ihr direk­ter Nach­fol­ger, die bol­sche­wis­ti­sche Revo­lu­ti­on ende­te in noch weit grö­ße­rem Ter­ror und ver­wüs­te­te für Jahr­zehn­te ganz Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa. Für einen drit­ten Auf­guss die­ses revo­lu­tio­nä­ren Mythos besteht kei­ne Ver­an­las­sung. Statt sich vom Kli­ma­ret­tungs­wahn eine Schein­iden­ti­tät sug­ge­rie­ren und von sei­ner apo­ka­lyp­ti­schen Fik­ti­on mobi­li­sie­ren zu las­sen, wür­de es völ­lig genü­gen, die noch vor­han­de­nen Bin­dun­gen zu pfle­gen und zu fes­ti­gen, zusam­men mit sei­nen Nach­barn sei­ne eige­ne Stadt so her­zu­rich­ten, in Ord­nung zu hal­ten und schön zu machen, dass sie von Frem­den ger­ne besucht wird und von den Bewoh­nern als ihre Stadt in ihre Sor­ge genom­men wer­den kann. In dem Kapi­tel „Bau­en, was bleibt“ aus „Bekennt­nis­se eines Häre­ti­kers“ schil­dert Scrut­on die Vor­stel­lun­gen des Archi­tek­ten Léon Krier, der Städ­te nach der Regel baut, in einer Stadt für Bewoh­ner müs­se alles in zehn Minu­ten zu Fuß erreich­bar sein. Sie wären eine loh­nens­wer­te Anre­gung für eine drän­gen­de Wie­der­sess­haft­wer­dung, deren Sinn uns abhan­den gekom­men scheint.

Wei­te­re Veröffentlichungen:

The Euro­pean: Von der Idee, kon­ser­va­tiv zu sein
TUMULT-Blog:
Roger Scrut­on lesen
CATO - Maga­zin für neue Sach­lich­keit - 01/202

1  Bo Lide­gaard: Die Aus­nah­me, Okto­ber 1943: Wie die däni­schen Juden mit­hil­fe ihrer Mit­bür­ger der Ver­nich­tung ent­ka­men, Mün­chen 2013, S. 464, es ist für mich auch eines der bes­ten Bücher, um den Unter­schied zwi­schen Aktion/Aktivist und ‚acting in con­cert‘ zu ver­ste­hen. Akti­on war die Sache der Nazis, acting in con­cert die der Dänen.

2 Aage Ber­tel­sen: Okto­ber 43, Mün­chen 1960, S. 107, er ver­bin­det die Erfah­rung sei­ner Frau mit einem Satz von Schil­ler: „Und set­zet ihr nicht das Leben ein, nie wird Euch das Leben gewon­nen sein.“

3 „Die Mei­nun­gen der Mehr­heit kön­nen falsch sein, die Wün­sche der Mehr­heit kön­nen bös­ar­tig sein, die Stär­ke der Mehr­heit kann gefähr­lich sein. Des­halb gibt es jeman­den, der wich­ti­ger ist als die Mehr­heit, näm­lich die Per­son, die ande­rer Mei­nung ist. Die­se Per­son müs­sen wir schüt­zen.“ Roger Scrut­on: Von der Idee, kon­ser­va­tiv zu sein, S. 65

4  Roger Scrut­on: Von der Idee kon­ser­va­tiv zu sein, Mün­chen 2019, S. 41

5 Roger Scrut­on: Grü­ne Phi­lo­so­phie, Mün­chen 2013, S. 89

6 „Soll unse­re mon­ar­chi­sche Ver­fas­sung mit allen Geset­zen und Tri­bu­na­len und allen alten Kor­po­ra­tio­nen des Rei­ches ver­nich­tet wer­den? Soll jeder Grenz­stein im König­reich zuguns­ten eines geo­me­tri­schen und arith­me­ti­schen Staats­expe­ri­ments von sei­ner Stel­le wei­chen?“ in: Edmund Bur­ke: Betrach­tun­gen über die Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, Zürich 1986, S. 122

7 Roger Scrut­on: Von der Idee kon­ser­va­tiv zu sein, Mün­chen 2019, S. 191

8  ebd., sie­he auch R. Scrut­on: Grü­ne Phi­lo­so­phie, S. 180: „Der radi­ka­le Ega­li­ta­ri­er befin­det sich gewöhn­lich im Dau­er­clinch mit der Welt des „Gebens und Neh­mens“, die ihn umgibt. Sei­ne Zuge­hö­rig­keit bezieht sich nicht auf das Hier und Heu­te, auf die ererb­te und unvoll­kom­me­ne sozia­le Ord­nung aller, die sich eben irgend­wie durch­schla­gen. Er ist Teil einer ima­gi­nä­ren Gesell­schaft von Gleich­ge­sinn­ten, die sich - edel im Gemüt - um ein gerech­tes, gemein­sa­mes Ziel scha­ren. Wo sich der Kon­ser­va­ti­ve mit der Fami­lie, der Gemein­de und der Nati­on iden­ti­fi­ziert, fühlt der Radi­ka­le sich einer Bewe­gung (kur­siv im Ori­gi­nal, BB) zuge­hö­rig, die sei­nen ewi­gen Schmerz des Getrennt­seins lin­dert und auflöst.“ 

9  vgl. Fran­çois Furet: 1789 - Vom Ereig­nis zum Gegen­stand der Geschichts­wis­sen­schaft: „Der Kampf um die Demo­kra­tie und der Kampf um den Sozia­lis­mus (heu­te müs­sen wir den Kampf um den Glo­bus hin­zu­fü­gen, BB) sind zwei auf­ein­an­der­fol­gen­de Kon­fi­gu­ra­tio­nen, deren dyna­mi­sches Prin­zip die Gleich­heit ist, die wie­der­um in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on ihren Ursprung hat. So ent­stand eine Visi­on, eine linea­re Geschich­te der Befrei­ung des Men­schen.“. Ber­lin 1980, S. 12f 

10 „Eben­so wie der Volks­wil­le ist die Ver­schwö­rung ein Macht­wahn; zusam­men stel­len sie die bei­den Sei­ten des­sen dar, was man die demo­kra­ti­sche Fik­ti­on der Macht nen­nen könn­te.“ ebd. S. 68

11  Roger Scrut­on: Von der Idee, kon­ser­va­tiv zu sein, S. 64

12  Um Miss­ver­ständ­nis­sen vor­zu­beu­gen: Der ‚wel­co­me refu­gees‘ Wahn hat nichts mit Gast­freund­schaft zu tun. Es ist der ver­zwei­fel­te Ver­such, sich der Last der Geschich­te auf bequems­te Art zu ent­le­di­gen. Gast­freund­schaft basiert auf der Gegen­sei­tig­keit, dem Ande­ren einen gewalt­frei­en Schutz­raum für einen zeit­wei­sen Auf­ent­halt gewäh­ren zu kön­nen. vgl. auch Roger Scrut­on: Grü­ne Phi­lo­so­phie: „Stam­mes­mit­glie­der betrach­ten sich als Fami­lie. Mit­glie­der reli­giö­ser Gemein­schaf­ten sehen ein­an­der als „die Gläu­bi­gen“ an. Men­schen einer Nati­on sehen ein­an­der als Nach­barn. All die­se For­men von Selbst-Iden­ti­tät wur­zeln in Bin­dung und Zuge­hö­rig­keit. Doch nur beim Natio­nal­ge­fühl spielt das Ter­ri­to­ri­um eine zen­tra­le Rol­le. Damit lie­fert es der Grup­pe von Frem­den eine ers­te Per­son Plu­ral und ermög­licht eine fried­li­che Koexis­tenz von Men­schen, die unter­ein­an­der kei­ne fami­liä­ren oder reli­giö­sen Bin­dun­gen haben.“ S. 248

13 Der Ursprung des apo­ka­lyp­ti­schen Geis­tes ist Isra­el. Das Volk Isra­el wur­de mit all sei­nen Wur­zeln aus der Erde geris­sen und ver­kehrt her­um nach oben auf­ge­hängt. Dadurch ent­stand erst jener beson­de­re Nicht-Ort, von dem aus die gesam­te exis­tie­ren­de Welt als das Fal­sche, das zu Ver­nich­ten­de ange­se­hen wer­den konn­te. vgl. Jacob Tau­bes, Abend­län­di­sche Eschatologie

14 Die Gewalt kann nie mehr, als die Gren­zen des poli­ti­schen Rau­mes zu schüt­zen. Wo die Gewalt in die Poli­tik selbst ein­dringt, ist es um die Poli­tik gesche­hen.“ Han­nah Are­ndt, Über die Revo­lu­ti­on, Mün­chen 1994, S. 20