Von „Mobil­ma­chung“ wird gespro­chen, wenn ein Krieg kurz bevor­steht.

Von der hier erreich­ten Kul­tur­hö­he des drit­ten Rei­ches aus erscheint dem
Füh­rer der Deut­schen Arbeits­front Dr. Ley als der größ­te Verbrecher
im deut­schen Vol­ke, wer „zum ersten­mal in Deutsch­land einen
Poli­ti­ker zum Zivi­lis­ten erklärt“ habe.
(„Völ­ki­scher Beob­ach­ter“, 1934, Nr. 45)

Kaum ein Tag ver­geht, an dem nicht der Bun­des­prä­si­dent, der Kanz­ler, die füh­ren­den Ver­tre­ter der regie­ren­den Par­tei­en, eil­fer­tig sekun­diert von den pri­vi­le­gier­ten Schich­ten in Medi­en, Kir­chen und ande­ren staats­tra­gen­den Insti­tu­tio­nen einen drin­gen­den Appell an die Medi­en­kon­su­men­ten rich­ten, die offen­bar exis­ten­zi­ell gefähr­de­te zwei­te deut­sche Demo­kra­tie vor einem Regie­rungs­wech­sel zu bewah­ren, obwohl doch der Wech­sel zwi­schen Regie­rung und Oppo­si­ti­on, zumin­dest auf dem Papier, zum Wesen einer jeden moder­nen Demo­kra­tie gehört und sie vor Erstar­rung und Kor­rum­pie­rung schüt­zen soll. Der ehe­ma­li­ge Gene­ral­se­kre­tär der CDU ver­kün­det, Demo­kra­tie brau­che kei­ne Alter­na­ti­ve (Ruprecht Polenz). Der Chef­kom­men­ta­tor der Süd­deut­schen Zei­tung, ein Jurist, ruft zur Mobil­ma­chung auf und will der gesam­ten Oppo­si­ti­on das akti­ve und pas­si­ve Wahl­recht ent­zie­hen (Heri­bert Prantl). Eine Pro­pa­gan­dis­tin der taz for­dert die Trans­for­ma­ti­on der sozia­len Markt­wirt­schaft in eine plan­mä­ßi­ge Kriegs­wirt­schaft, um sich gegen das zum glo­ba­len Feind hypo­sta­sier­te Kli­ma ver­tei­di­gen zu kön­nen (Ulri­ke Herr­mann), eine hys­te­risch gestei­ger­te Neu­auf­la­ge der Ein­krei­sungs­pho­bie vor dem Aus­bruch des ers­ten Welt­kriegs. Eine Peti­ti­on zur Aberken­nung von Grund­rech­ten für einen Poli­ti­ker kommt auf über eine Mil­li­on Stim­men. Auf dem staat­lich orga­ni­sier­ten revo­lu­tio­nä­ren Kreuz­zug von Eli­te und Mob „gegen rechts“ wird offen zur Volks­jus­tiz am poli­ti­schen Geg­ner auf­ge­ru­fen, ohne dass die beglei­ten­den poli­zei­li­chen Ord­nungs­kräf­te auch nur den Ver­such unter­neh­men, den Auf­ruf zu einer Straf­tat zu unter­bin­den. Wie Phö­nix aus der Asche sonnt sich die erneu­er­te Volks­ge­mein­schaft der Guten inner­lich beseelt in der Erlö­sungs­il­lu­si­on, nach­träg­lich Hit­ler besiegt und sich von der Erb­schuld gerei­nigt zu haben. Die Bun­des­fa­mi­li­en­mi­nis­te­rin, eine Grü­ne, plant der­weil über die direk­te Ver­zah­nung von links­ak­ti­vis­ti­schen Orga­ni­sa­tio­nen mit der ört­li­chen Poli­zei und Exe­ku­ti­ve die flä­chen­de­cken­de Ein­rich­tung einer neu­en poli­ti­schen Poli­zei. Die gro­ße Mehr­heit der Orga­ne der Rechts­pfle­ge sieht der tag­täg­li­chen Gewöh­nung an den Aus­nah­me­zu­stand als neue Nor­ma­li­tät gleich­gül­tig zu. Die Anknüp­fun­gen an Metho­den des Kriegs­kom­mu­nis­mus der Bol­sche­wi­ki sind offen­sicht­lich. Asso­zia­tio­nen an die exzes­si­ve Stra­ßen­ge­walt der Wei­ma­rer Repu­blik drän­gen sich auf. Der sakra­li­sier­te „Hei­li­ge Krieg“ der aus­er­wählt Guten gegen das Böse als Ablen­kungs­ven­til eines umfas­sen­den Kri­sen­be­wusst­seins erin­nert an die Begeis­te­rung städ­tisch-deka­den­ter Mas­sen im August 1914.

Die Ver­gif­tung der Gesell­schaft durch eine klei­ne extre­mis­ti­sche Kanail­le, wobei es belang­los ist, ob es sich um rech­te oder lin­ke Ban­di­ten han­delt, ist bereits so weit fort­ge­schrit­ten, dass sowohl der Unter­schied zwi­schen einer kri­mi­nel­len Ver­ei­ni­gung und einer Regie­rung als auch der zwi­schen Krieg und Frie­den ein­ge­eb­net erscheint. Die Paro­le „La patrie est en dan­ger“, die in der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on die Not­wen­dig­keit von Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung und Ter­ror ein­lei­te­te, kehrt heu­te als Schlacht­ruf zur Ver­tei­di­gung der Demo­kra­tie gegen sei­ne inne­ren Fein­de wie­der. Wenn es nicht erneut die Mas­sen in ihren Bann zöge und als Legi­ti­mie­rung eines Aus­nah­me­zu­stan­des genutzt wür­de, könn­te man es als Schmie­ren­thea­ter abtun. Es fehlt nicht viel und der poli­ti­sche Geg­ner muss, um die Demo­kra­tie zu ret­ten, in Schutz­haft genom­men wer­den, eine poli­zei­li­che Maß­nah­me, die auch schon vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten von den in Bedräng­nis gera­te­nen Sozi­al­de­mo­kra­ten der Wei­ma­rer Repu­blik genutzt wur­de. „Wo ‚nie wie­der‘ drauf­steht, ist ‚schon wie­der‘ drin“, for­mu­lier­te einer tref­fend auf face­book. Der „Wel­fa­re Sta­te“, der nach 45 als Schutz gegen einen Rück­fall in den „War­fa­re Sta­te“ auch in Deutsch­land instal­liert wur­de, war, so muss man kon­sta­tie­ren, als Mit­tel gegen den tota­li­tä­ren Umschlag einer libe­ra­len Demo­kra­tie nicht hin­rei­chend. Das Pro­blem steckt offen­bar tiefer.

Deutsche Kontinuitäten

Denn in his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve führt von den
„Reichs­fein­den“ sowohl ein Weg zur „Reichs­kris­tall­nacht“,
als auch zur „Volks­ge­mein­schaft“ mit dem notwendigen
Kom­ple­ment der „Volks­schäd­lin­ge“ die es zu besei­ti­gen gilt.
(
Hans-Ulrich Weh­ler)

„Nicht immer die Nazi-Keu­le raus holen, son­dern vielleicht
ein­fach mal ein paar Nazis keu­len. Tschüss, bis nächs­te Woche.“
(Jan Böh­mer­mann, ZDF-Clown)

„Die unab­läs­si­ge Dis­kri­mi­nie­rung von Oppo­si­ti­on ist jedoch ein Kenn­zei­chen des deut­schen Kai­ser­reichs, damit auch eine der Bedin­gun­gen sei­nes Unter­gangs gewe­sen“ (Hans-Ulrich Weh­ler). Dass eine preu­ßisch-mili­ta­ris­tisch gepräg­te Mon­ar­chie kei­nen Weg fand, sich mit einer Oppo­si­ti­on poli­tisch aus­ein­an­der zu set­zen, lässt sich rück­bli­ckend nach­voll­zie­hen. Dass es eine sich als moder­ne west­li­che Demo­kra­tie ver­ste­hen­de Bun­des­re­pu­blik über hun­dert Jah­re und zwei Ord­nun­gen spä­ter immer noch nicht ver­mag, muss zu den­ken geben. Eine durch kon­se­quen­te Nega­tiv­aus­le­se ent­kern­te SPD ver­fährt im Bund mit ande­ren Lin­ken mit der erstar­ken­den Oppo­si­ti­on nicht viel anders, als im Kai­ser­reich mit den Sozi­al­de­mo­kra­ten ver­fah­ren wur­de, ein Spiel mit ver­tausch­ten Rol­len als Far­ce und Iro­nie der Geschich­te. Was dem Reich die Sozi­al­de­mo­kra­ten als „Reichs­fein­de“ sind der Bun­des­re­pu­blik die Oppo­si­ti­on als „Demo­kra­tie- oder Ver­fas­sungs­fein­de“. Herr­schen­de, die nicht regie­ren kön­nen, füh­ren mit den „Waf­fen des Poli­zei­staa­tes“ (Meine­cke) einen Ver­nich­tungs­krieg gegen eine zum inne­ren Feind sti­li­sier­te Oppo­si­ti­on. In den letz­ten Jah­ren des Kai­ser­rei­ches galt die „Zer­trüm­me­rung der Sozi­al­de­mo­kra­tie“ als „Kern­fra­ge des innen­po­li­ti­schen Lebens“ (Erz­ber­ger). Es bedarf kei­ner Mühe, ähn­lich lau­ten­de Sen­ten­zen der aktu­el­len Tages­pres­se zu entnehmen.

Eine Regie­rung, die mit einer immer schril­le­ren Kriegs­pro­pa­gan­da (Hit­ler ante por­tas) und ent­spre­chen­der Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung poli­ti­schen Ter­ror gegen die eige­ne demo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­on orga­ni­siert, eine durch­gän­gig kor­rup­te und in Tei­len bereits offen kri­mi­nell agie­ren­de abge­half­ter­te Schei­neli­te, die davon träumt, mit­hil­fe einer tota­len Mobil­ma­chung der Gesell­schaft („Deutsch­land steht auf“) einer für Frie­dens­zei­ten völ­lig nor­ma­len, zudem poli­tisch über­fäl­li­gen demo­kra­ti­schen Abwahl ent­ge­hen zu kön­nen, zugleich die Ent­fes­se­lung natio­na­ler Kriegs­lei­den­schaf­ten als Ret­tung einer demo­kra­ti­schen Frie­dens­ord­nung insze­niert, ist ein so offen­kun­dig para­do­xes Phä­no­men, dass die The­se von der inne­ren Soli­da­ri­tät zwi­schen Demo­kra­tie und Tota­li­ta­ris­mus genau­er unter­sucht wer­den muss. Eine Lin­ke, die sich heu­te der glei­chen kriegs­ideo­lo­gi­sie­ren­den Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung bedient wie die nach­träg­lich als ein­deu­tig rechts eti­ket­tier­ten Natio­nal­so­zia­lis­ten zeigt, wie sinn­los das rechts/links Sche­ma längst gewor­den ist. Im Krieg wird die Lüge zur Pflicht. Um die Moral zu stär­ken, müs­sen Geschich­ten erfun­den und tat­säch­li­che Vor­komm­nis­se ver­schwie­gen wer­den. Um die Tat­sa­chen­wahr­heit ist es schlecht bestellt. Dass eine radi­kal geschei­ter­te poli­ti­sche „Eli­te“ unter­schied­li­che gesell­schaft­li­che Indi­vi­du­en aus dis­pa­ra­ten Milieus in eine erfah­rungs­re­sis­ten­te ein­heit­li­che Mas­se von Sol­da­ten ver­wan­deln und gegen ein in grel­len Far­ben gemal­tes Feind­bild auf die Stra­ße het­zen kann, demons­triert nur all­zu deut­lich, wie groß die poli­ti­schen Defi­zi­te in Deutsch­land noch immer sind. Das Indi­vi­du­um erweist sich nicht etwa als Schutz, son­dern Vor­aus­set­zung sei­ner Tota­li­sie­rung. Die gedan­ken­lo­se Ver­wen­dung von Begrif­fen wie „Stra­ßen­po­li­tik“ (Lutz Rapha­el) für rei­ne Gewalt­at­ta­cken zeigt das Aus­maß der intel­lek­tu­el­len Ver­wahr­lo­sung. Gemes­sen an den Gewalt­ex­zes­sen des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts scheint mir die Leich­tig­keit, Geschwin­dig­keit und Inten­si­tät, mit der das, was wir als poli­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung zu ken­nen mei­nen, in eine gewalt­för­mi­ge krie­ge­ri­sche Form hin­über­glei­tet, die das straf­lo­se Töten des ande­ren her­bei­sehnt, ein deut­li­cher Hin­weis dar­auf zu sein, dass wir uns trotz aller for­ma­ler Anstren­gun­gen noch immer in einem vor­po­li­ti­schen Raum bewe­gen. Nach­dem funk­tio­nie­ren­de insti­tu­tio­nel­le Bar­rie­ren gegen die Radi­ka­li­sie­rung einer zuneh­mend extre­mis­ti­scher agie­ren­den Exe­ku­ti­ve nicht vor­han­den sind, bleibt für den Betrach­ter vom Spiel­feld­rand nur eine Kon­se­quenz: auch die zwei­te deut­sche Demo­kra­tie ist geschei­tert und wir ste­hen erneut vor einem Trümmerhaufen.

Dass sich so vie­le, statt sich die­ser ein­fa­chen Tat­sa­che zu kon­fron­tie­ren und ihre poli­ti­sche Her­aus­for­de­rung anzu­neh­men, lie­ber in einen Krieg het­zen las­sen, der zwi­schen revo­lu­tio­nä­rem Bür­ger- und Reli­gi­ons­krieg oszil­liert, ist das eigent­lich bemer­kens­wer­te Phä­no­men. „Die enge Ver­bin­dung reli­giö­ser und welt­li­cher Kriegs­deu­tun­gen wur­de nicht zuletzt durch ein ver­brei­te­tes apo­ka­lyp­ti­sches Den­ken ermög­licht, das zugleich das Erneue­rungs­er­leb­nis des Kriegs­be­ginns auf­fan­gen und der Sinn­stif­tung des Krie­ges dien­lich sein konn­te.“ schrieb Wolf­gang Kru­se in „Eine Welt von Fein­den“ zu dem „Geist von 1914“, der im wesent­li­chen eine Flucht aus der moder­nen Welt mit ihren Wider­sprü­chen und Ent­frem­dungs­ten­den­zen gewe­sen sei. Die bei­den Kern­ideen von 1914, die ver­streu­ten und ent­wur­zel­ten Indi­vi­du­en in eine sakra­li­sier­te Gemein­schaft zu ver­sam­meln und ihnen mit einer sinn­stif­ten­den Mis­si­on ein gemein­sa­mes Ziel vor Augen zu füh­ren, wir­ken auch heu­te so unver­min­dert, als sei in der Zwi­schen­zeit nichts vor­ge­fal­len, was einer sol­chen Begeis­te­rungs­wel­le Ein­halt gebie­ten soll­te. Der eksta­ti­sche Aus­nah­me­zu­stand und damit die Ent­kop­pe­lung der Bin­dung an das Recht, wird auch heu­te wie­der ohne grö­ße­ren Wider­stand zur neu­en Nor­ma­li­tät. Sou­ve­rän ist, wer über das nack­te Leben jedes ein­zel­nen Kör­pers ver­fü­gen kann, eine moder­ne Vor­stel­lung, die Gior­gio Agam­ben auf die abso­lu­te Gewalt eines römi­schen pater fami­li­as zurück­führt. Wie konn­te es so weit kommen?

Auch die zwei­te deut­sche Demo­kra­tie begann mit schwe­ren Geburts­feh­lern. Die als erwünsch­ter Neu­an­fang ver­ord­ne­te Demo­kra­tie der Ame­ri­ka­ner schei­ter­te an den Behar­rungs­wi­der­stän­den der Deut­schen, die bera­tungs­re­sis­tent da wei­ter­mach­ten, wo sie vor dem Krieg auf­ge­hört hat­ten und ledig­lich neue Seil­schaf­ten auf die durch den Krieg in gro­ßer Zahl frei gewor­de­nen Posi­tio­nen hiev­ten. Von heu­te aus muss man sagen: An poli­ti­schen Kon­se­quen­zen aus den tota­li­tä­ren Ein­brü­chen bestand wenig Inter­es­se. Der anfäng­lich anti­to­ta­li­tä­re Kon­sens hielt nur weni­ge Jah­re und wur­de rasch von Ade­nau­ers tak­ti­schem Anti­kom­mu­nis­mus abge­löst. Die „Furcht vor dem Kom­mu­nis­mus“ zu instru­men­ta­li­sie­ren, „gehör­te zu den Herr­schafts­merk­ma­len“ sei­ner Kanz­ler­de­mo­kra­tie (Klaus-Diet­mar Hen­ke). Als guter Kat­ho­le wuss­te er die Mobi­li­sie­rungs­en­er­gien einer apo­ka­lyp­ti­schen Grund­stim­mung zu nut­zen und mal­te nicht nur im Wahl­kampf den Unter­gang Deutsch­lands an die Wand, wenn die Oppo­si­ti­on an die Macht kom­men wür­de. Nur sein Alter und der demo­kra­ti­sche Wech­sel zu einer SPD-geführ­ten Regie­rung ver­hin­der­ten, dass schon Ade­nau­er die zwei­te deut­sche Demo­kra­tie durch­feu­da­li­sie­ren konn­te. Mit dem Wech­sel ver­la­ger­te sich das Feind­bild von Kom­mu­nis­mus zu Faschis­mus mit spie­gel­bild­li­chen Aus­blen­dun­gen bei gleich­blei­ben­der Herr­schafts­tech­nik. Sich mit den Gewalt­ex­zes­sen des Sta­li­nis­mus zu beschäf­ti­gen, hielt man, wie einer von Deutsch­lands Vor­zei­ge­intel­lek­tu­el­len in selbst­ent­lar­ven­der Offen­heit ver­kün­de­te, für über­flüs­sig (Jür­gen Haber­mas in einem Gespräch mit Adam Mich­nik). Begüns­tigt durch eine Bevöl­ke­rung, die sich an „Heil Hit­ler“ die Fin­ger ver­brannt hat­te, nach dem Krieg mit dem Not­wen­digs­ten und daher über­wie­gend mit sich selbst beschäf­tigt war, ent­stand der vom Staats­bür­ger unkon­trol­lier­te mafiö­se Par­tei­en­staat schon bald nach 45. Zu Recht ver­merk­te Jah­re spä­ter der „rech­te“ Adels­spross Eber­hard von Brau­chitsch, dass „Par­tei­spen­den“ nur ein Euphe­mis­mus für Schutz­geld sei („Der Preis des Schwei­gens“), wäh­rend der „lin­ke“ RAF-Anwalt Otto Schi­ly als par­la­men­ta­ri­sches Mit­glied des Flick-Unter­su­chungs­aus­schus­ses 1986 den dama­li­gen Alt­par­tei­en ein offen­si­ves Agie­ren im rechts­frei­en Raum attes­tier­te, das sich um Recht und Gesetz nicht scher­te („Poli­tik in bar“). Erst 60 Jah­re spä­ter kam her­aus, in wel­chem Aus­maß der Grün­dungs­kanz­ler Ade­nau­er Kanz­ler­amts­chef Glob­ke und die bei der Orga­ni­sa­ti­on Geh­len unter­ge­kom­me­ne Funk­ti­ons­eli­te der Natio­nal­so­zia­lis­ten nutz­te, um eine Oppo­si­ti­on zu bekämp­fen, die er meist als Feind, gele­gent­lich sogar als Tod­feind titu­lier­te. Ver­geb­lich mach­te Her­bert Weh­ner in einer Bun­des­tags­re­de vom Juni 1960 dar­auf auf­merk­sam, dass Geg­ner­schaft eine Demo­kra­tie bele­be, wäh­rend Feind­schaft sie zer­stö­re. Was der His­to­ri­ker Klaus-Diet­mar Hen­ke als „größ­tes deut­sches Demo­kra­tie­ver­bre­chen“ bezeich­ne­te, war nur die unter­bre­chungs­freie Fort­set­zung gewohn­ter Herr­schafts­tech­nik. Von einer macht­tak­ti­schen Per­spek­ti­ve aus gese­hen erscheint der Unter­schied zwi­schen einem Kon­rad Ade­nau­er und einem Wal­ter Ulb­richt weit­aus gerin­ger, als die ideo­lo­gi­sche Freund/Feind Insze­nie­rung glau­ben machen möch­te. Den Ulb­richt zuge­schrie­be­nen Satz: „es muss demo­kra­tisch aus­se­hen, aber wir müs­sen alles in der Hand haben“, hät­te eben­so gut auch Ade­nau­er sagen können. 

Schon vor der Wie­der­ver­ei­ni­gung war der deut­sche Rechts­staat ein potem­kin­sches Dorf und das rechts/links Koor­di­na­ten­sys­tem ein Ana­chro­nis­mus aus der Kreuz­zugs­rhe­to­rik der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Spä­te­re His­to­ri­ker wer­den her­aus­fin­den, in wel­cher Wei­se das von ihrem DDR-Agen­ten Adolf Kan­ter über Jahr­zehn­te gelie­fer­te prä­zi­se Wis­sen der Sta­si um die Kor­rum­pier­bar­keit wei­ter Krei­se der west­deut­schen Poli­tik den Ver­ei­ni­gungs­pro­zess beein­flusst hat („Der Schützling“). 

Ohne Wie­der­ver­ei­ni­gung hät­ten die Grü­nen das Demo­kra­ti­sie­rungs­po­ten­zi­al, das Brandt nur ange­kün­digt aber nicht ein­ge­löst hat, viel­leicht umset­zen kön­nen. Die Wie­der­ver­ei­ni­gung traf sie an der anti­na­tio­na­len Achil­les­fer­se und brach­te sie unwie­der­bring­lich auf die schie­fe Bahn. Sprich­wört­lich für den grün-deut­schen Selbst­hass wur­de das Wahl­kampf­pla­kat von 1990: „Alle reden von Deutsch­land. Wir reden vom Wet­ter.“ Den publi­zis­ti­schen Beob­ach­tern der Grü­nen war ent­gan­gen, dass es sich bei den Grü­nen nie um eine Par­tei im demo­kra­ti­schen Sinn gehan­delt hat. Die Vor­stel­lung, sie in ein Par­tei­en­sys­tem inte­grie­ren zu kön­nen, war so falsch wie die Fehl­ein­schät­zung jener Alt­kon­ser­va­ti­ven, die glaub­ten Hit­ler ein­bin­den und zäh­men zu kön­nen. Wer­den die Grü­nen nicht vor­her gestoppt, hören sie erst auf, wenn Deutsch­land voll­stän­dig rui­niert ist. Die Errich­tung einer Uto­pie setzt eine vor­he­ri­ge Ver­wüs­tung vor­aus. Poli­tisch kon­se­quent wird daher der Wider­stand von den Land­wir­ten vor­an­ge­trie­ben, die nicht nur für Ihre indi­vi­du­el­len Inter­es­sen auf die Stra­ße gehen und en pas­sant die Gren­zen jener Leh­re auf­zei­gen, die meint, es gin­ge in der Poli­tik um Aus­hand­lung unpo­li­ti­scher Inter­es­sen. Eine der Grup­pen, auf denen sich Land­wir­te in sozia­len Medi­en ver­net­zen heißt: „Wir wol­len unser Land zurück“ - ein Echo auf die gegen die Zen­tra­li­sie­rung der EU gerich­te­te Brexit Paro­le der Eng­län­der: „we want our coun­try back“.

Bis zu Hel­mut Kohl war die zwei­te deut­sche Demo­kra­tie inner­lich kor­rum­piert, aber poli­tisch noch nicht zer­stört. Erst mit Ange­la Mer­kel geriet das Staats­schiff in exis­ten­zi­el­le sozia­lis­ti­sche Schräg­la­ge, ein Umstand der von klü­ge­ren Staats­män­nern wie Vytau­tas Lands­ber­gis früh­zei­tig ver­merkt wur­de, aber bei der gro­ßen Mehr­heit der deut­schen Intel­lek­tu­el­len auf tau­be Ohren stieß. Was man bis zu H. Kohl noch als feu­da­len Kon­ti­nui­täts­be­stand eines Lan­des ein­stu­fen kann, dem es bis­lang nie gelang, sei­ne poli­ti­sche Frei­heit selbst zu erkämp­fen, änder­te sich nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung und der geräusch­los ent­sorg­ten Prä­am­bel des Grund­ge­set­zes. Das Instru­ment der ver­öf­fent­lich­ten Mei­nung erhielt jetzt eine neue, ein­deu­ti­ge­re Grund­stim­mung. Seit eine in der DDR sozia­li­sier­te Kanz­le­rin aus pro­tes­tan­ti­schem Hau­se auf eine kom­mu­nis­tisch poli­ti­sier­te west­deut­sche Nach­kriegs­ge­nera­ti­on traf, die ihr uto­pi­sches bes­se­res Deutsch­land gegen das eige­ne Land als Feind­bild in Stel­lung zu brin­gen hoff­te, ver­schob sich der demo­kra­ti­sche Rah­men unter der Hand in ein sozia­lis­ti­sches Ord­nungs- und Deu­tungs­ras­ter, in dem bestimm­te Par­tei­un­gen für sich allein bean­spru­chen, die Demo­kra­tie als Gan­zes zu reprä­sen­tie­ren (die ehe­dem „füh­ren­de Rol­le der Par­tei“). Alle ande­ren, die nicht zum erlauch­ten Kreis gehö­ren, wer­den als „Fein­de der Demo­kra­tie“ gebrand­markt und mit den aus dem Sowjet­im­pe­ri­um bekann­ten Zer­set­zungs­tech­ni­ken an der poli­ti­schen Betei­li­gung gehin­dert, ein Kon­strukt, das aus der engen Ver­knüp­fung von Revo­lu­ti­on und Krieg der fran­zö­si­schen und bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­ti­on stammt. Wäh­rend der Weg, den die pol­ni­sche Soli­dar­ność beschritt, von Streik über Kon­flikt und Kriegs­recht zum Run­den Tisch führ­te, der die ver­fein­de­ten Par­tei­en zur gegen­sei­ti­gen Aner­ken­nung und wie­der ins gewalt­freie Gespräch brach­te, beschrei­tet Deutsch­land den umge­kehr­ten Weg in Rich­tung zuneh­men­der Repres­si­on, was auch dar­an liegt, dass es jene ver­söh­nungs­stif­ten­den Tra­di­tio­nen, die ideo­lo­gi­sche Fein­de gleich­zei­tig als pol­ni­sche Lands­leu­te emp­fin­den läßt („Noch ist Polen nicht ver­lo­ren“, „Polen schie­ßen nicht auf Polen“) im zer­stü­ckel­ten Deutsch­land nicht gibt. 

Die aus den post­mar­xis­tisch indok­tri­nier­ten 68ern erwach­se­nen Grü­nen ver­stan­den sich als Leni­nis­ti­sche Avant­gar­de, die, geseg­net mit einer exklu­si­ven Ein­sicht in die (Kli­ma-) Zukunft, der unmün­di­gen Mensch­heit das Gesetz vor­schrei­ben kann und muss. Wer erzieht, will domi­nie­ren, nicht regie­ren. Ob man sich selbst sei­ne füh­ren­de Rol­le mit dem rech­ten Weg ins Para­dies oder der Abwehr einer apo­ka­lyp­ti­schen Kata­stro­phe zu legi­ti­mie­ren sucht, spielt dabei nur eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Mit sol­cher­art christ­lich pro­jek­tier­ter Herr­schafts­ver­dich­tung ver­schwin­det die Demo­kra­tie als Mög­lich­keit der Par­ti­zi­pa­ti­on vie­ler. Mit der Ver­kün­dung des Atom­mo­ra­to­ri­ums nach der Zer­stö­rung des japa­ni­schen Kern­kraft­werks in Fuku­shi­ma gelang A. Mer­kel der ers­te Ver­fas­sungs­bruch („ein Tsu­na­mi für die Rechts­ord­nung der Bun­des­re­pu­blik“). Die­ser fand zwar einen gewis­sen Wider­hall in aka­de­misch-juris­ti­schen Fach­zeit­schrif­ten, das Par­la­ment hin­ge­gen nahm sei­ne eige­ne Ent­mach­tung wider­stands­los hin. Dass das deut­sche Grund­ge­setz die Trans­for­ma­ti­on einer demo­kra­ti­schen in eine auto­ri­tä­re sozia­lis­ti­sche Ver­fas­sung ohne Betei­li­gung des Sou­ve­räns nicht vor­sieht, spiel­te kei­ne Rol­le. Die Herr­schaft des Geset­zes wur­de ent­behr­lich, ein Damm­bruch mit weit­rei­chen­den Fol­gen. Der poli­ti­schen Unrei­fe der Nach­kriegs­west­deut­schen bleibt geschul­det, dass man den demo­kra­tie­zer­stö­ren­den Cha­rak­ter des grü­nen tro­ja­ni­schen Pfer­des nicht recht­zei­tig wahr­ge­nom­men hat. Wäh­rend das Grund­ge­setz als for­ma­le Fas­sa­de noch steht, wird es in der poli­ti­schen und juris­ti­schen Pra­xis jeden Tag inner­lich mehr ausgehöhlt.

So ent­steht der Ein­druck, dass die­je­ni­gen, die sich gera­de laut­stark als Ret­ter der Demo­kra­tie in Sze­ne set­zen, ihr damit tat­säch­lich, bei eini­gen sicher ohne es zu wol­len, den fina­len Todes­stoß ver­ab­rei­chen, ein para­do­xes Kri­sen­phä­no­men, das der His­to­ri­ker Chris­ti­an Mei­er für den Unter­gang der römi­schen Repu­blik so beschrie­ben hat: „Eine Gesell­schaft zer­stört ihre Ord­nung, obwohl, ja: indem sie sie zu erhal­ten sucht.“ (Res publi­ca amis­sa). Das Para­do­xe lag für Chris­ti­an Mei­er dar­in, dass das Poli­ti­sche zwar das Zen­trum der Kri­se aus­mach­te, aber poli­tisch nicht zum Aus­trag kom­men konn­te, weil die Aus­ein­an­der­set­zun­gen sich in belang­lo­sen Neben­kriegs­schau­plät­zen ver­lo­ren. Es zei­ge sich eine bemer­kens­wer­te Dis­kre­panz zwi­schen dem Klei­nen, wor­über laut­stark gestrit­ten wur­de, und dem Gro­ßen, was sich in bered­tem Schwei­gen tat­säch­lich an grund­le­gen­dem Wan­del vor aller Augen voll­zog. Gewis­se Par­al­le­len sprin­gen ins Auge: auch der Zer­fall der zwei­ten deut­schen Demo­kra­tie beschleu­nigt sich, weil er zur öffent­lich strit­ti­gen Sache nicht wer­den kann. Wo die wehr­haf­te Demo­kra­tie am lau­tes­ten beschwo­ren wird, zer­setzt sie ihre tra­gen­den Insti­tu­tio­nen am effektivsten.

Wenn wir vom Tages­ge­sche­hen etwas zurück tre­ten und uns die letz­ten Unter­gän­ge Deutsch­lands ver­ge­gen­wär­ti­gen, kommt ein wie­der­keh­ren­des Mus­ter in den Blick: die Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung in den letz­ten Jah­ren des deut­schen Kai­ser­reichs ende­te 1918 in der „Urka­ta­stro­phe“ (Geor­ge F. Kennan) des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts. Man ver­zich­te­te nach der Nie­der­la­ge auf eine kon­se­quen­te Demo­bi­li­sie­rung und trug den Krieg von drau­ßen nach drin­nen. Die Wei­ma­rer Repu­blik war dem Ansturm einer neu­er­li­chen Mas­sen­be­we­gung nicht gewach­sen und ende­te in einer noch weit grö­ße­ren Kata­stro­phe, die als Tota­le Herr­schaft eine bis dahin unbe­kann­te neue poli­ti­sche Ord­nung aus Ideo­lo­gie und Ter­ror ins Spiel brach­te. Und im Moment sieht alles danach aus, dass auch die zwei­te deut­sche Demo­kra­tie in einer „Mas­sen­be­we­gung des Guten“ unter­ge­hen wird, die als blo­ße Umkeh­rung die Tra­gö­die der ers­ten wiederholt.

Im Haus des Herrn 

Eine Tra­di­ti­on des Poli­ti­schen konn­te sich in Deutsch­land nur in den Frei­en Reichs­städ­ten eta­blie­ren („Stadt­luft macht frei nach Jahr und Tag“), auf dem Land hin­ge­gen herrsch­te über­all die patri­ar­cha­le Ord­nung des Hau­ses. Die sieg­reich aus­ge­foch­te­nen Eini­gungs­krie­ge des feu­da­len Land­adels ende­ten daher nur mit einer pom­pö­sen aber des­to pein­li­che­ren sym­bo­li­schen Insze­nie­rung am fal­schen Ort. Außen­po­li­tisch sorg­te der Raub von Elsass-Loth­rin­gen für einen dau­er­haft laten­ten Kriegs­zu­stand, der von Anfang an gut­nach­bar­schaft­li­che Bezie­hun­gen mit Frank­reich blo­ckier­te. Nach innen setz­te die feh­len­de Demo­bi­li­sie­rung die Herr­schen­den als­bald unter ver­gleich­ba­ren Zug­zwang. Eine Reichs­grün­dung im kon­sti­tu­tio­nel­len Sin­ne, die die auf­ge­heiz­ten Kriegs­lei­den­schaf­ten dau­er­haft in eine gesetz­te­re Form der Aus­ein­an­der­set­zung hät­te über­tra­gen kön­nen, fand nicht statt und pflanz­te den Keim des spä­te­ren Schei­terns des deut­schen Kai­ser­reichs schon zu Beginn. Der Grün­der­zeit fehl­te der Grund und die gemein­sa­me Sache.

Die feh­len­de poli­ti­sche Alter­na­ti­ve eines insti­tu­tio­na­li­sier­ten und recht­lich gesi­cher­ten Frei­heits­rau­mes unter Glei­chen sorg­te dafür, dass sich die gewohn­te Ord­nung des Hau­ses flä­chen­de­ckend als para­dig­ma­ti­sches Modell sozia­ler Bezie­hun­gen durch­set­zen konn­te. Der Herr im Haus domi­nier­te die Arbei­ter­woh­nung wie der Pas­tor das Pfarr­haus, der Meis­ter den Betrieb wie der Leh­rer die Schu­le, der Fabrik­di­rek­tor das Unter­neh­men wie der Guts­herr das Land. Das Haus ist jedoch tra­di­tio­nell ein rechts­frei­er Raum, in dem der Wil­le des Sou­ve­räns den Aus­schlag gibt. Noch bis weit ins Mit­tel­al­ter galt der Spruch: „Das Recht gilt bis zur Trau­fe“. Im (pri­va­ten) Haus kann der Haus­herr mit sei­nen hier­ar­chisch unter­ge­ord­ne­ten und nach römi­schem Recht als Sachen betrach­te­tem Eigen­tum machen, was er will. Die Kon­se­quenz: Die in libe­ra­ler Tra­di­ti­on nur von außen ange­kleb­ten indi­vi­du­el­len Grund­rech­te als Siche­run­gen gegen Über­grif­fe des Sou­ve­räns wer­den über Bord gewor­fen, sobald das Schiff ins Schlin­gern kommt. Gerät das blo­ße Über­le­ben ins Zen­trum der öffent­li­chen Auf­merk­sam­keit, behan­delt der Maß­nah­men­staat sei­ne Bür­ger als vogel­frei. An der Spit­ze kon­zen­triert sich in einer ein­zi­gen Per­son der Kai­ser, der obers­te Kriegs­herr sowie der Lan­des­herr der Kir­che, der sei­nen indi­vi­du­el­len Wil­len als Vor­schrift für alle ver­kün­det. Kommt es zum Schwur gegen einen tat­säch­li­chen oder ein­ge­bil­de­ten inne­ren wie äuße­ren Feind, gibt es auf der einen Sei­te den Sou­ve­rän und auf der ande­ren eine ein­heit­lich durch­ge­form­te Mas­se, das gilt poten­zi­ell für Wil­helm II. wie für den Bun­des­prä­si­den­ten Stein­mei­er, der sich befreit von den Fes­seln des Geset­zes an die Spit­ze des Mobs gegen rechts stellt.

Man hat die von Bis­marck im Kai­ser­reich ein­ge­führ­te und von sei­nen Nach­fol­gern dank­bar auf­ge­grif­fe­ne Herr­schafts­tech­nik als „nega­ti­ve Inte­gra­ti­on“ bezeich­net, ein sozio­lo­gi­scher Ver­le­gen­heits­be­griff. Tat­säch­lich bleibt Bis­marck in der vor­po­li­ti­schen Ord­nung des sakral über­de­ter­mi­nier­ten Krie­ges ste­cken, knüpft im Kampf gegen die katho­li­sche Min­der­heit, spä­ter die oppo­si­tio­nel­len Sozi­al­de­mo­kra­ten an die Reli­gi­ons­krie­ge des 17. Jahr­hun­derts an und führt auch im Inne­ren die ent­spre­chend mobi­li­sier­te Gesin­nungs­ge­mein­schaft der Recht­gläu­bi­gen gegen die Abtrün­ni­gen ins Feld. Einer dro­hen­den Erschlaf­fung des Wäh­lers muss durch ste­ti­ges Anfa­chen der Glut­hit­ze ent­ge­gen­ge­steu­ert wer­den. Der laten­te Bür­ger­krieg wird zur neu­en Gewohn­heit und kann je nach außen- oder innen­po­li­ti­scher Oppor­tu­ni­tät als Herr­schafts­si­che­rung gegen Kri­tik, Oppo­si­ti­on und auf­drän­gen­de Wirk­lich­keit genutzt wer­den. Sta­bi­le poli­ti­sche Insti­tu­tio­nen kön­nen sich in die­ser stän­di­gen Bedro­hungs­at­mo­sphä­re so wenig ent­wi­ckeln wie eine Soli­da­ri­tät unter Lands­leu­ten. Statt­des­sen wer­den die für jede Kriegs­füh­rung not­wen­di­gen Tech­ni­ken der Feind­bild­pro­duk­ti­on, Des­in­for­ma­ti­on und Mas­sen­mo­bi­li­sie­rung ent­wi­ckelt und ste­tig wei­ter pro­fes­sio­na­li­siert. Auch nach 89 kehr­ten sämt­li­che Zer­set­zungs­tech­ni­ken des Unrechts­staa­tes in ver­fei­ner­ter Form gesamt­deutsch wie­der (Bär­bel Bohley).

Den Sol­da­ten des 9. Novem­ber 1918 gelang es zwar, sich der Fort­set­zung des Krie­ges zu ver­wei­gern, eine poli­ti­sche Ord­nung, die dem Ansturm kriegs­lüs­ter­ner Dem­ago­gen gewach­sen wäre, ent­stand aus die­ser Initi­al­zün­dung jedoch nicht. Men­schen, die auf den Leip­zi­ger Mon­tags­de­mons­tra­tio­nen 1989 die Macht­fra­ge gestellt haben, müs­sen sie heu­te erneut stel­len. Wäre es nicht lang­sam an der Zeit, dass die Deut­schen, statt sich in einen Krieg gegen­ein­an­der het­zen zu las­sen, die mehr­fach ange­fan­ge­nen Revo­lu­tio­nen voll­enden und jene seit über 150 Jah­ren aus­ste­hen­de Repu­blik grün­den, die aus dem lan­gen Schat­ten der Reli­gi­ons­krie­ge her­aus­tritt und nicht nur meh­re­re Gene­ra­tio­nen über­dau­ert, son­dern auch ein Rechts­we­sen ein­rich­tet, das über die Jah­re in Gewohn­heit ein­si­ckern und zum guten alten Recht wer­den kann? Der Raum des Poli­ti­schen beginnt am Aus­gang des Hau­ses mit Blick ins Freie. Ein sol­ches Wag­nis braucht Gefähr­ten, kei­ne Gleichgesinnten.


Publi­ziert auf: Tichys Ein­blick, tabu­lara­sa Maga­zin, Weiss­ger­ber Frei­heit, NACHHALL, wir selbst (Nr. 55, April 2024)