In den vie­len, meist nach­denk­li­chen Auf­ar­bei­tun­gen der Demons­tra­tio­nen in Ber­lin am 1. und 29. August wur­de, mal mit mehr melan­cho­li­schem, mal mit mehr opti­mis­ti­schem Grund­ton, auf das ›bun­te Völk­chen‹ ver­wie­sen, die naiv-roman­ti­sche Fes­ti­val­stim­mung wur­de eben­so her­vor­ge­ho­ben wie der feh­len­de poli­ti­sche Ernst. Ins­ge­samt ver­miss­te man die man­geln­de Ori­en­tie­rung und Aus­rich­tung auf einen kla­ren poli­ti­schen Geg­ner. Das Volk müs­se sich erst fin­den, hieß es.

Das ist alles rich­tig, den­noch feh­len mir in die­sen Beschrei­bun­gen zwei wesent­li­che Aspek­te. 1989 gab es eine öst­li­che und eine west­li­che Wahr­neh­mung und zwi­schen bei­den eine gro­ße Ver­ständ­nis­lo­sig­keit. Nach der erfolg­rei­chen Dele­gi­ti­mie­rung der bloß ange­maß­ten ›füh­ren­den Rol­le der Par­tei‹ durch das ›wir sind das Volk‹ änder­te sich die Per­spek­ti­ve: Mit dem ›wir sind ein Volk‹ erging die Auf­for­de­rung an die west­li­chen Lands­leu­te, den Ver­fas­sungs­auf­trag des Grund­ge­set­zes anzu­neh­men, was am lau­tes­ten die 68er Gene­ra­ti­on, die sich mit der Flucht aus der geschicht­li­chen Ver­ant­wor­tung pro­fi­ta­ble Posi­tio­nen gesi­chert hat­te, mit kon­se­quen­ter Ver­wei­ge­rung quit­tier­te. Otto Schi­lys pein­li­cher Bana­nen­auf­tritt dürf­te noch vie­len in Erin­ne­rung geblie­ben sein. Chris­ti­an Mei­er gehör­te damals zu den weni­gen her­aus­ra­gen­den öffent­li­chen Intel­lek­tu­el­len, die sich uner­müd­lich, aber weit­ge­hend ver­geb­lich dar­um bemüh­ten, ein Gespräch in Gang zu bringen.

Gut drei­ßig Jah­re spä­ter hat sich eini­ges ver­än­dert. Es beginnt sich eine, an mar­kan­ten Sym­bo­len wie DDR 2.0 ver­dich­te­te, gemein­sa­me gesamt­deut­sche Wahr­neh­mung der Lage des Lan­des abzu­zeich­nen. Wäh­rend die Erfah­rung der Kluft zwi­schen erfahr­ba­rer Wirk­lich­keit und medi­al ver­mit­tel­ter Rea­li­tät für Ost­deut­sche schon so selbst­ver­ständ­lich ist, dass sie über ein gut ein­ge­üb­tes Lesen zwi­schen den Zei­len ver­fü­gen, müs­sen wohl­stands­ver­wöhn­te West­deut­sche eine für sie neue Erfah­rung erst noch ver­ar­bei­ten. Einen der­art rapi­den Auto­ri­täts­ver­lust vor allem öffent­lich-recht­li­cher Medi­en hat es in der Nach­kriegs­re­pu­blik noch nie gege­ben. Die Fol­ge: Man tauscht sich jetzt aus. Die 1989 aus west­li­cher Per­spek­ti­ve irri­tie­ren­de Erfah­rung der ›unter­bro­che­nen Revo­lu­ti­on‹ bekommt all­mäh­lich jene ihr zuste­hen­de Bedeu­tung, die die unga­ri­sche von 1956 im Gedächt­nis der Ungarn immer schon hat­te, eine spä­te Genug­tu­ung für die, die damals viel ris­kiert haben und es heu­te wie­der tun. Wer gegen­über wem was nach­zu­ho­len hät­te, ist heu­te deut­lich offe­ner, als in der Pha­se west­li­cher Arroganz.

Die weit ver­brei­te­te Brandt­sche Meta­pher vom ›jetzt wächst zusam­men, was zusam­men gehört‹ ließ das Miss­ver­ständ­nis eines qua­si natür­li­chen Pro­zes­ses zu, der ganz ohne unser Zutun schon in die rich­ti­ge Rich­tung ablau­fen wür­de. Heu­te sieht man kla­rer: Die lang­sam ent­ste­hen­de gemein­sa­me gesamt­deut­sche Wahr­neh­mung über­springt die Jahr­zehn­te der deut­schen Tei­lung und knüpft damit an die letz­te gesamt­deut­sche Wahr­neh­mung an, die der ers­ten Besat­zungs­jah­re vor der Auf­spal­tung in West und Ost. Die Zwi­schen­pha­se, die ja nicht nur die strik­te Tei­lung der deut­schen Geschich­te beinhal­te­te, son­dern eben­so das gehei­me Ein­ver­ständ­nis zwi­schen den Sozia­lis­ten im Osten und denen im Wes­ten, mit den tota­li­tä­ren Ein­brü­chen nichts zu tun zu haben, wird damit been­det. Die weit­rei­chen­de poli­ti­sche Bedeu­tung einer sol­chen Wie­der­an­knüp­fung an gesamt­deut­sche geschicht­li­che Kon­ti­nui­tä­ten ist gegen­wär­tig noch gar nicht klar aus­zu­lo­ten. Deut­lich ist jedoch: Die 68er, deren prä­gen­der Kern die Ver­wei­ge­rung der Ver­ant­wor­tung gewe­sen ist, gera­ten immer mehr ins defen­si­ve Abseits, was die Vehe­menz ver­ständ­lich macht, mit der sie sich an einer ver­lo­re­nen Sache fest­klam­mern. Die Stra­te­gie des Wes­tens, 1989 so wei­ter­zu­ma­chen, als sei nichts gesche­hen, erweist sich als Sackgasse.

Der zwei­te, viel­leicht noch wich­ti­ge­re Aspekt bezieht sich auf etwas, was für Eng­län­der seit Jahr­hun­der­ten selbst­ver­ständ­lich, für Deut­sche aber etwas gänz­lich Neu­es ist. Wahr­schein­lich zum aller­ers­ten Mal in der deut­schen Geschich­te ent­steht eine gemein­sa­me und mas­sen­fä­hi­ge Wahr­neh­mung von der Bedeu­tung eines sta­bi­len Rechts­we­sens, dem, was die Eng­län­der die ›rule of law‹ nen­nen. Das gegen­wär­ti­ge Mes­sen mit zwei­er­lei Maß ist so offen­kun­dig, dass man gezielt weg­schau­en muss, um nicht zu bemer­ken, dass hier etwas Grund­le­gen­des aus den Fugen gerät, was jahr­zehn­te­lang Sta­bi­li­tät garan­tier­te. Das Herr­schen per unbe­grün­de­tem Not­stand ruft den ver­brei­te­ten Wunsch nach einer Rück­kehr zum guten alten Recht hervor.

Die poli­tisch klü­ge­ren Eng­län­der, die an ent­schei­den­den Momen­ten ihrer Geschich­te recht­zei­tig selbst­herr­lich, abso­lu­tis­ti­sche Ansprü­che begrenzt haben, sind damit über all die Jahr­hun­der­te bes­ser gefah­ren als der Kon­ti­nent, der bis heu­te immer wie­der der Illu­si­on sou­ve­rä­ner Herr­schaft anheim­fiel und extrem hohe Prei­se dafür bezahlt hat. Allei­ne schon auf­grund die­ser Erfah­run­gen wäre eine Ver­schie­bung der Per­spek­ti­ve von den jako­bi­nisch-bol­sche­wis­ti­schen zu den poli­ti­schen Revo­lu­tio­nen überfällig.

Eine gesamt­deut­sche Bewe­gung, die sich im Bemü­hen, sich über sich selbst Klar­heit zu ver­schaf­fen, in die poli­ti­schen Revo­lu­ti­ons­ge­schich­ten Mit­tel­eu­ro­pas ein­fä­delt, wäre ein hoff­nungs­vol­ler Anfang. Es kommt nicht von unge­fähr, dass der Prä­si­dent Litau­ens, Vytau­tas Lands­ber­gis, nach der Wie­der­erlan­gung der Unab­hän­gig­keit, einer der ers­ten war, der öffent­lich vor einem erneu­tem Abglei­ten West­eu­ro­pas in den Sozia­lis­mus gewarnt hat.

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