Eine Menschenfischerin in der Welt von Gestern und Heute

19. Febru­ar 1972, das war der Tag als bei uns end­lich der Fern­seh­ap­pa­rat ins Wohn­zim­mer kam. Für uns Kin­der ein auf­re­gen­der Tag, über den wir immer noch ger­ne spre­chen. Bis­her gin­gen wir nach der Kehr­wo­che ins Dorf­lo­kal. Nun saßen alle um 18 Uhr bei der Sport­schau zu Haus. Oma und Opa, mei­ne Eltern, alle Geschwis­ter und die Nach­bars­kin­der, die noch kei­nen Appa­rat zu Hau­se hat­ten. Auch jene, die sich nicht für Fuß­ball inter­es­sier­ten, harr­ten aus bis zum Kanal­wech­sel. Dann, um „18.45 und 16 Sekun­den“ leg­te Schnell­sprech Die­ter Tho­mas Heck los.

Das war ein wun­der­ba­rer Tag, der Tag an dem Con­ny Kra­mer starb. Julia­ne war zu Gast bei uns. Sie konn­te damals auf den Punkt brin­gen, was heu­te eine wie Hele­ne kann: kein einig Volk, aber eine ver­bin­den­de Volks­mu­sik; kei­ne Ver­fas­sung, aber ein Gesetz mit Grund und Recht. Lie­be Lese­rin­nen und Leser, fra­gen Sie sich, wie ich mich: Wer spielt heu­te eine Musik, die ver­bin­det das zer­ris­se­ne Volk, das in mise­ra­bler Ver­fas­sung und kaum noch Grund für sein Recht? Ein einig Volk im stän­di­gen Kampf mit sich.

Als ich, 45 Jah­re spä­ter, das ers­te Mal bei Hele­ne Fischer war, spür­te ich deut­lich: Egal wel­chen Alters und Geschlechts; egal wel­cher sozia­len, farb­li­chen oder poli­ti­schen Kala­mi­tä­ten und Puber­tä­ten - alle waren ver­bun­den im Her­zen als sie auf uns zeig­te und sang: „Du, Du, Du!“…und ich war sicher, sie mein­te mich. Ihre Nich­te stand nicht weit von mir und als Tan­te Hele­ne ihr vor 10.000 zum Geburts­tag gra­tu­lier­te, waren wir eine gro­ße Fami­lie. Sie wen­den ein: Schau doch in ihr Gesicht, fehlt nicht der fröh­li­chen Hele­ne, der Tief­gang, der bei der schwer­mü­ti­gen Julia­ne besticht. Die Hele­ne ist zart, ihre rus­si­sche „Jele­na“ trägt das ver­letz­ba­re Reh in sich. War­um ist sie so hart zu sich? An jenem Abend in Zürich, es konn­te jeder sehen, waren ihre Augen - bei­de, das rech­te wie das lin­ke - ent­zün­det und vol­ler Trä­nen. Den bei­den Damen ist aber eines gewiss und gemein, das Talent eine Men­schen-Fische­rin zu sein. Das ist höchs­te Chris­ten-Kunst, seit Simon dem Petrus, der auch ein Fischer war. Er soll­te Men­schen vor der Ver­derb­nis und aus der See­len­not für den rech­ten Glau­ben retten. 

Wie sehr sich die „Welt von Ges­tern“ doch geän­dert hat! Men­schen­fi­sche­rei wird heu­te pro­fes­sio­nell und von Staats wegen betrie­ben: in Schif­fen, die sich „See­brü­cken“ nen­nen, und mit Lust die Brü­cken zwi­schen den Men­schen bre­chen, wenn die­se bei ihrem ruhm­vol­len Feld­zug mit­ma­chen wol­len. Ruhm und Ehre bei der Auf­lö­sung des Mut­ter- und Vater­lands; Bun­des­ver­dienst­or­den für den Kampf gegen die mensch­li­che Bedürf­nis- und Bünd­nis­na­tur. Am Ende kommt nur einer gut dabei weg, der all­mäch­ti­ge, see­len- und gott­lo­se Staat. Der gute Staat ist lieb­lich, sorgt für ein Leben ohne Sor­gen und Lei­den. Im Auf­trag der inter­na­tio­na­len Elends­ver­wal­tung auch dafür, dass weder leid­li­che Frei­heit und selbst gemach­tes Glück uns wei­ter belas­ten. Dir schmeckt das nicht? Geh doch rüber und beug dich run­ter! Seit der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on steht die Guil­lo­ti­ne für dich bereit. Ist unse­re Gene­ra­ti­on noch zum Lei­den bereit? Wie Petrus, der ein Fels war, dem Lei­den sei­nes Herrn am Kreuz zusah. Ein Lei­den, dass zur Erlö­sung führt? Muss staats-tra­gend sein, sonst wird es archiviert. 

Das Lei­den der Julia­ne an Conny’s Tod ergab sich drei Tage nach Ascher­mitt­woch. Da wird die Fas­nacht zur Fas­ten­zeit in Erin­ne­run­gen das Lei­den des Jesu zum Chris­tus, zur Erlö­sung der Men­schen­see­le vor Selbst­über­hö­hung und Selbst­zer­stö­rung. Heu­te fas­ten wir poli­tisch kor­ri­giert, aus Selbst­mit­leid und zur Erlö­sung von kli­mak­te­ri­schen und selbst-gemach­ten poli­ti­schen Pub­si­tä­ten. Dazu ver­sam­meln sich die Jün­ger und Jün­ge­rin­nen, die ver­wöhn­ten Stein-Mei­er-Brücks, an der Alster*innen, Alster*außen, und den Lan­dungs­brü­cken. Oh weh, wen sehe ich da? Ach ja, sie wohnt ja um die Ecke. Um Got­tes Wil­len, was macht denn die Hele­ne da an der Was­ser­front bei Volks­frontmu­cke? Der Anti-Anti-Faschist und Anti-Anti-Anti­se­mit mit Resi­denz im Schloss hat zum Appell geru­fen. Wie kam der Ruf bei Hele­ne an? Wur­de sie, gera­de beden­ken- und atem­los in ihrem Trep­pen­haus, über­rum­pelt? Bei die­ser Vor­stel­lung wird mir ganz plü­mer­ant und bleibt die Spu­cke weg. Ist das die Welt von Heu­te, in der die Volks­mu­sik gemei­ne Sache macht mit der staat­li­chen Über­macht? Erin­nert sich noch irgend­wer an die sin­gen­de Revo­lu­ti­on der Esten über dem öst­li­chen Meer? Die san­gen sich 1988 aus der Knecht­schaft, ein Meer von Fah­nen, Trach­ten und Vol­kes­stim­men. Mel­de sich bei mir, wer bei den Wor­ten des Roman Toi nicht Rotz und Was­ser heult: „Plea­se dear Lord, Help us to Keep Our Coun­try and Our Lan­guage“.

Gemein­sam steht der Chor der Selbst­ge­rech­ten auf, wir blei­ben wie damals sit­zen. Der Sams­tag war ein schö­ner Tag, die Glo­cken klan­gen, Welt­of­fen­heit war selbst­ver­ständ­lich und freu­di­ge Pflicht. Was hät­ten wir wohl damals getan, hät­te uns der Appa­rat so zer­schlis­sen, mit Socken­schuss und Mucken­schiss beschmis­sen. Das ist Schwä­bisch und soll hei­ßen: Sams­tag abend ist Hit­pa­ra­de und wir ste­hen nicht auf, weil wir die gan­ze Woche stan­den und brau­chen weder Klein­geis­ter noch rote Socken, um zu wis­sen auf wel­cher Polit-Par­ty wir tan­zen; von unse­ren Stern­chen wol­len wir gro­ße und rei­fe Gefüh­le, bil­li­ge Erklä­run­gen im Stern jucken uns nicht. Sonst geht es Hele­ne wie Manu­el dem Erneue­rer, Bin­den­trä­ger und Rädels­füh­rer von natio­na­ler Trag­wei­te. Wer mit­ten im Spiel das Team wech­selt fin­det sich nicht zurecht. Er schießt ein Eigen­tor - nanu, das Lob der Süd­kur­ve bleibt aus. Bald tauscht er die Last der Spiel­füh­rer­schaft gegen die Freu­den der Vater­schaft. Das wird sei­ne wich­tigs­te Cham­pi­ons League, hier zeigt sich ob wirk­lich ein Mann in ihm steckt. Es ist das Kind, das den Mann schafft; das End­spiel fin­det stän­dig und zu Hau­se statt. 

In der Welt von Ges­tern gehört der Rea­li­täts-Check zum Pflicht­pro­gramm. Den Kickern und Inter­pre­ten folg­ten auf dem Fuße das Ticken der Uhr und der Ding-Dong-Ruf zur Tages­schau. Man­che Kin­der gin­gen, ich blieb sit­zen. Die Auf­re­gung stieg, auch bei den Erwach­se­nen, wenn es um den Volks­sport jener Tage - das links­ra­di­ka­le Atten­tat - ging. Flug­zeug­ent­füh­rung (Kai­ro), Absturz wegen Bom­ben­ex­plo­si­on an Bord (Schweiz), Gei­sel­nah­me (aller Orten), Juden­se­lek­ti­on (Enteb­be), Hin­rich­tung (Moga­di­schu) - klingt schlimm nicht wahr, war damals halt so. Hele­ne noch nicht ein­mal gebo­ren, der Wal­ter noch klein und nicht Frank genug, das Geschick der Nati­on zu bestim­men. Erst lang­sam stimm­te sich die Nati­on ein auf die Inter­pre­ta­ti­on der Explo­si­on und Exe­ku­ti­on: Frei­heits­kampf und hilf­lo­ser Schrei nach Lie­be und Gerech­tig­keit. Damals war Wal­ter noch tole­ran­ter und schrieb für eine sozia­lis­ti­sche Pos­til­le. Heu­te geht er allen auf den Zei­ger mit dem „Weck­ruf“ den er bei mas­sa­krier­ten Juden ver­nimmt. Er springt im Kreis und mahnt - das kann er beson­ders gut - um die Spi­ra­le der Gewalt zu been­den. Hat der Mann denn kei­nen, der ihn wecken kann, ohne ein Blut­bad anzu­rich­ten? Viel­leicht soll­te er - ganz ohne Gewalt - die schwin­del-erre­gen­de Spi­ra­le sei­ner Amts­zeit beenden. 

Heu­te sind die Mah­ner so selt­sam erbar­mungs­los. Auch wenn sie selbst nicht Gna­de wal­ten las­sen, wir gön­nen ihnen einen gnä­di­gen Abgang, ich schwö­re, bei Gott dem Barm­her­zi­gen. Die­ser hat­te damals im Sep­tem­ber eine schwa­che Stun­de, wir waren haut­nah dabei. Die Stür­mer des paläs­ti­nen­si­schen Teams feg­ten das israe­li­sche vom Platz, Kalasch­ni­kow and more. Die­sen fei­gen Sieg der Volks­front über die olym­pi­sche Volks­mu­sik besan­gen deut­sche Bar­den damals noch auf klei­nen Büh­nen in jor­da­ni­schen Flücht­lings­la­gern. Bald aber erklang das gei­le Tri­umph­ge­joh­le auf den Ber­li­ner Stra­ßen und den gro­ßen Tri­bü­nen der Welt: Sieb­ter Okto­ber, ich höre den Ruf dei­ner Trom­pe­ten schon.

Eine ande­re foto­ge­ne Julia­ne jener Tage hieß Plam­beck, hat­te viel Ärger im Gesicht. Sie starb bei der Flucht aus dem Knast. Ihr Leben ende­te tra­gisch, ein Vor­bild für ihre gan­ze Klas­se: das gestoh­le­ne Flucht­au­to, ein wein­ro­ter Volks­wa­gen, gerät auf die lin­ke Fahr­bahn und stößt mit einem Las­ter zusam­men, der Kies und Asche für die arbei­ten­de Klas­se bringt. Wäh­rend des­sen berei­tet sich Julia­nes P’s Arbeits­kol­le­gin­nen im paläs­ti­nen­si­schen Lager auf den Gegen­an­griff vor. Wir waren wie­der am Appa­rat als die Wein- und Oli­ven­le­ser ihre Juden­aus­le­se nach Afri­ka expor­tier­ten. Das sind alte Geschich­ten, kaum jemand erin­nert sich noch, wäre nicht kürz­lich der besag­te Wal­ter so frank und frei gewe­sen, die Gud­run von damals mit höchs­ten Lor­bee­ren zu schmü­cken. Er befand, sie gehö­re ins Alpha­bet der Hel­din­nen der Nati­on: E wie Ens­slin kommt vor F wie Fischer. Steht Hele­ne schon auf Frank-Wal­ters Lis­te? Fin­det sich die Men­schen­fi­sche­rin dort denn wie­der - in der Mit­te, zwi­schen Anti­fa, Ens­slin und der see­len­lo­sen Seebrücke?

Ich bedaue­re sehr, was die­ser Tage mit Hele­ne geschah. Es steht zu befürch­ten, dass sie bald einen Platz auf Wal­ters Lis­te - für Ver­diens­te beim Krie­chen zum fal­schen Kreu­ze - ange­bo­ten bekommt. Mein Gott, wer hat sie nur ver­ra­ten, an die Sozi­al­de­mo­kra­ten? Schaut sie denn nicht hin, wen sie sich zur Wahl­ver­wandt­schaft nimmt? Goe­the soll­te sie lesen, der ist eine Stern­schnup­pe unse­rer Geschich­te. Statt des­sen zu publi­zie­ren im schwar­zen Loch abstür­zen­der Kome­ten, was glaubt sie denn was ihr Publi­kum liest und lie­bet. Die Char­lot­te bei Goe­the hat es ja schon gesagt: „Das Bewusst­sein, mein Liebs­ter… ist kei­ne hin­läng­li­che Waf­fe, ja manch­mal eine gefähr­li­che für den, der sie führt“.

Lie­be Hele­ne, dein Stern­tal­er­tag war ein Waf­fen­gang, der Tag an dem wie­der ein Stück mei­ner hei­len Welt zer­brach. Mal sehen was aus dem Scher­ben­hau­fen wird. Urtei­len möch­te ich nicht, nur ger­ne fra­gen dich: weißt du noch, in wel­che Gesell­schaft du dich begibst. Wer sind dei­ne Bera­ter? Sich gegen die Fan­kur­ve zu stel­len, im Ton einer Gou­ver­nan­te, sor­ry lie­be Tan­te, das gehört sich nicht. Hof­fent­lich fin­dest du dein Glück bei ganz ande­ren Mäch­ten: der heil­sa­men Kraft der Kin­der und dem Glau­ben an den Barm­her­zi­gen. Wenn ich wün­schen dürf­te, das Schick­sal der Char­lot­te wün­sche ich dir nicht. Das Ende war abseh­bar, es kam wie es kom­men muss­te. Ihre Toch­ter wur­de das Opfer ihrer eige­nen Machen­schaft und Wahl­ver­wandt­schaf­ten. Ich wünsch­te du bleibst dei­ner Sache treu, der Menschenfischerei.