Das Gebäude des Obersten Gerichts in Jerusalem und die Hintergründe der Justizreform in Israel

In den letz­ten Jah­ren gab es inten­si­ve, öffent­li­che Dis­kus­sio­nen in Isra­el um die Geset­zes­vor­schlä­ge der Regie­rungs­ko­ali­ti­on zur Reform der Jus­tiz und des Obers­ten Gerichts­hofs. In den Mona­ten vor den Mas­sa­kern am 7. Okto­ber 2023 fan­den regel­mä­ßig Pro­tes­te und Demons­tra­tio­nen statt. Selbst Reser­vis­ten der Armee droh­ten damit, den regel­mä­ßi­gen Wehr­dienst zu ver­wei­gern. Da die israe­li­sche Armee das Sym­bol der Ein­heit des Lan­des und der Fes­tig­keit des Lebens­wil­lens ist, war dies ein ernst zuneh­men­des Zei­chen dafür, dass die Hef­tig­keit der Aus­ein­an­der­set­zung selbst für israe­li­sche Ver­hält­nis­se unge­wöhn­lich war. Wäh­rend nun in Isra­el die Grün­de für die Reform breit dis­ku­tiert wer­den, kam bei deut­schen Poli­ti­kern und Medi­en fast nur der Pro­test an. Die jet­zi­ge Jus­tiz-Reform ist vor dem Hin­ter­grund der Jus­tiz-Revo­lu­ti­on in den 70er bis 90er Jah­ren zu ver­ste­hen. Die heu­ti­gen Refor­men sind eine direk­te Reak­ti­on auf die Aus­wir­kun­gen die­ser Revo­lu­ti­on. Vor allem geht es um die Zustän­dig­keit und Macht­fül­le des Obers­ten Gerichts in einem Land, das gro­ße Erwar­tun­gen an die Jus­tiz, aber kei­ne Ver­fas­sung hat. Die Erwar­tun­gen an die Jus­tiz sind auch geprägt von der jüdi­schen Tra­di­ti­on der Gerech­tig­keit, den gerech­ten Pro­phe­ten und der salo­mo­ni­schen Weis­heit der Rich­ter­kö­ni­ge. Das kommt auch im Gebäu­de des Obers­ten Gerichts zum Ausdruck.

Von der Revo­lu­ti­on zur Reform

Die kon­sti­tu­tio­nel­le Revo­lu­ti­on damals wur­de von der Rich­ter­schaft vor­an getrie­ben, wäh­rend die Reform­vor­schlä­ge heu­te von einer brei­ten Koali­ti­on der Bür­ger Isra­els und der gewähl­ten Regie­rung initi­iert und getra­gen wer­den. Eine wich­ti­ge Trieb­kraft der Revo­lu­ti­on war der dama­li­ge obers­te Rich­ter Aha­ron Barak. Dem ste­hen heu­te meh­re­re zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen gegen­über, die über Jah­re für die­se Reform gekämpft haben; allen vor­an, das von Mos­he Kop­pel gegrün­de­te Kohe­let Poli­cy Forum. Hier soll vor allem auf drei zen­tra­le Reform­vor­ha­ben ein­ge­gan­gen werden:

1. Die Ernen­nung und Anzahl der Rich­ter des Obers­ten Gerichts soll neu gere­gelt wer­den. Eine Sperr­mi­no­ri­tät amtie­ren­der Obers­ter Rich­ter im Aus­wahl­gre­mi­um neu­er Rich­ter soll es nicht mehr geben.

2. Die Gewal­ten­tren­nung wird gestärkt, indem die Zustän­dig­keit des Obers­ten Gerichts defi­niert und die Macht­fül­le der drit­ten Gewalt begrenzt wird. Eine Klau­sel, die es bis­her dem Obers­ten Gericht erlaubt hat, Ver­ord­nun­gen und Geset­ze auf­grund ihrer „Unver­nünf­tig­keit“ abzu­leh­nen, wird abgeschafft.

3. Das Par­la­ment bekommt die Mög­lich­keit, sei­ne Geset­zes­vor­la­gen trotz der Ableh­nung des Obers­ten Gerichts durchzusetzen.

Die ers­ten bei­den Refor­men erge­ben sich aus dem Prin­zip der Tren­nung der Gewal­ten (sepa­ra­ti­on of powers) und der Balan­ce der Mäch­te im Staat (checks and balan­ces). Eine Rekru­tie­rung der obers­ten Rich­ter aus den eige­nen Rei­hen gibt es in demo­kra­ti­schen Län­dern nicht. Dies wür­de, wie in Isra­el zu sehen ist, die Rich­ter­schaft der demo­kra­ti­schen Kon­trol­le ent­zie­hen und dem Wil­len des Sou­ve­räns (des Vol­kes) ent­frem­den. Die „Unvernünftigkeits“-Klausel (unre­asonable clau­se) ist das Ein­falls­tor für rich­ter­li­che Will­kür und wider­spricht der demo­kra­ti­schen Legi­ti­mie­rung und Kon­trol­le der drit­ten Gewalt. Nur die Über­stim­mungs-Klau­sel (over­ri­de clau­se) kann als strit­tig gel­ten, da sie dem Par­la­ment mehr Macht gibt als in man­chen Demo­kra­tien sonst üblich. Sie ist die Ant­wort dar­auf, dass eine sehr klei­ne Grup­pe von nicht-gewähl­ten Rich­tern die gewähl­te Volks­ver­tre­tung (Knes­set) in den letz­ten Jah­ren all­zu oft über­stimmt hat. Die Kri­tik an die­ser Reform ist nach­voll­zieh­bar. Die Klau­sel selbst ist die Ant­wort auf die Gerichts­pra­xis der letz­ten 50 Jahre.

Ren­dez­vous mit israe­li­schen Realitäten

Der Hin­ter­grund der Jus­tiz­re­form erschließt sich erst nach einem Ren­dez­vous mit der Wirk­lich­keit in Isra­el. Wer mit den gegen­wär­ti­gen Obses­sio­nen der deut­schen Öffent­lich­keit an die Sache her­an­geht, wird bei der Jus­tiz­re­form die glei­chen Gespens­ter sehen, die im eige­nen Land umher­geis­tern. In Isra­el gibt es seit Jah­ren eine Bedro­hung der Demo­kra­tie „von Rechts wegen“ und nicht von Rechts. Da das Land kei­ne Ver­fas­sung besitzt, in der die Tren­nung der Gewal­ten fest­ge­legt ist, haben sich die Zustän­dig­kei­ten der Gerich­te aus der Pra­xis ent­wi­ckelt. So ent­stand nach der Staats­grün­dung eine rich­ter­li­che Macht­fül­le und ein­sei­ti­ge Domi­nanz einer klei­nen Grup­pe säku­la­rer, lin­ker und asch­ke­na­si­scher Juris­ten und Rich­ter. Dies ent­spricht weder den Anfor­de­run­gen des moder­nen Isra­el noch sei­ner kul­tu­rel­len Mischung. In der Reform­be­we­gung kommt das far­bi­ge, bun­te und gemisch­te Isra­el zu Wort, dem wir auch auf den Stra­ßen und in den Cafés begeg­nen. Es fin­den sich Ein­wan­de­rer aus Äthio­pi­en, Kin­der von jeme­ni­ti­schen und ira­ki­schen Juden an pro­mi­nen­ter Stel­le. Ins­ge­samt sind sephar­di­sche Juden (aus dem Mit­tel­meer­raum) stark reprä­sen­tiert, wäh­rend bei den Geg­nern der Refor­men, der immer klei­ner wer­den­de Teil asch­ke­na­si­scher Juden (aus Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa) domi­niert. Das gilt auch für die gegen­wär­ti­ge Beset­zung des Obers­ten Gerichts. Beim Grup­pen­fo­to fin­den wir neben einem Sohn ira­ki­scher Juden und dem Ver­tre­ter der ara­bi­schen Min­der­heit fast nur asch­ke­na­si­sche Mit­glie­der. Das ist auch an den Nach­na­men abzu­le­sen: Vogel­man, Sohl­berg, Mintz, Barak, Will­ner, Stein, Stei­nitz, Gross­kopf.

Die „kon­sti­tu­tio­nel­le Revo­lu­ti­on“ (Aha­ron Barak) hat einer klei­nen „ver­nünf­ti­gen“ Min­der­heit ermög­licht, den All­tag der Israe­lis und die Arbeit des Par­la­ments und der Regie­rung zu beein­flus­sen. Eine Reform, die die­se Ent­wick­lung kor­ri­giert, ist völ­lig nach­voll­zieh­bar und lan­ge über­fäl­lig. In Isra­el ist die Fra­ge der Gerech­tig­keit und der Rich­ter­schaft aber nicht nur eine poli­ti­sche. Hier kommt auch Reli­gi­on mit ins Spiel. Da ich mich mit dem Gebäu­de des Obers­ten Gerichts befasst habe, erlau­be ich mir das Pro­blem auf eine archi­tek­to­ni­sche Fra­ge zuzu­spit­zen: sol­len wir der Gerech­tig­keit oder der Ver­nunft einen Tem­pel bauen?

Das Gebäu­de: Der Gerech­tig­keit einen Tem­pel bauen

Als das Gebäu­de des obers­ten Gerichts­hofs in Jeru­sa­lem 1992 in Betrieb genom­men wur­de, haben vie­le Israe­lis die­ses bestaunt und sind in ihren Außen- wie Innen­hö­fen gewan­delt. Es ist wun­der­schön anzu­se­hen und an hei­ßen Som­mer­ta­gen ein wohl-tem­pe­rier­ter Ort, um Mit­tags­pau­se zu machen. Damals war der Secu­ri­ty-Check kurz und schmerz­los, die Atmo­sphä­re und der dress code typisch israe­lisch leger und ent­spannt. Män­ner in kur­zen Hosen und San­da­len schlen­der­ten in - mit Tages­licht­ein­fall - sanft beleuch­te­ten Hal­len und ver­schwan­den in Sit­zungs­säalen, die aus­sa­hen wie eine Syn­ago­ge oder eine Kapel­le. Letz­te­res war auch der Grund mei­ner lan­gen Auf­ent­hal­te im Gebäu­de. Ich schrieb an einer reli­gi­ons­wis­sen­schaft­li­chen Arbeit über den Ein­fluss der pro­phe­ti­schen Tra­di­ti­on auf die Archi­tek­tur von Gerichtsgebäuden. 

Das Gebäu­de ist mehr als ein Gerichts­hof. Es ist säku­lar und sakral, sowohl irdi­scher Hof und himm­li­scher Gar­ten. Wie bei sakra­len Grund­stein­le­gun­gen üblich lag auch hier in der Wahl des Ortes eine zen­tra­le Aus­sa­ge über die erhoff­te Bedeu­tung des Gebäu­des. Wäh­rend das alte Gebäu­de in der Alt­stadt lag und im Besitz der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che war, wur­de der Neu­bau in bes­ter Lage ober­halb der Knes­set plat­ziert. Die resi­die­ren­den Rich­ter und Rich­te­rin­nen schau­ten nun auf das Par­la­ment und die gewähl­ten Volks­ver­tre­ter her­un­ter. Aus der Sicht der pro­phe­ti­schen Rich­ter­tra­di­ti­on ein genia­ler Schach­zug. Für jene, die mit viel Begeis­te­rung die Rol­le der Gerech­ten in der Geschich­te Isra­els stu­die­ren, war die Wahl ide­al. Über dem Urteil der Men­schen über Men­schen steht noch die Selbst­be­gren­zung durch den Ver­trag am Sinai und das dort geschlos­se­ne Bünd­nis mit Gott. Es ist als wäre Gott selbst Anwalt und obers­ter Rich­ter geworden. 

Die Lage des Gebäu­des pass­te genau in die­ses Bild. Die Wahl des Ortes war auch ein ers­tes Warn­si­gnal, ein Hin­weis auf zukünf­ti­ge Kon­flik­te. Das Isra­el Anfang der 90er Jah­re war aber noch ganz anders als heu­te. Es war mehr oder weni­ger immer noch ein Ein-Par­tei­en-Staat. Die Arbei­ter­par­tei hat­te über 40 Jah­re nahe­zu alle wich­ti­gen Posi­tio­nen in der Armee und in den zivi­len Insti­tu­tio­nen besetzt. Die Jus­tiz-Revo­lu­ti­on der Rich­ter­schaft hat­te kaum öffent­li­che Dis­kus­sio­nen ausgelöst. 

Die Akzep­tanz für höchst­rich­ter­li­che Macht­über­schrei­tung hat wahr­schein­lich auch reli­giö­se Wur­zeln. In der jüdi­schen Geschich­te kommt die Ver­schmel­zung von Rich­ter- und Königs­amt immer wie­der vor. Das bekann­tes­te Bei­spiel ist sicher­lich König Salo­mon, der könig­li­che Macht und gerech­ten Rich­ter­spruch unter dem Schirm der Weis­heit und Güte - also nicht der Ver­nunft oder der Ver­fas­sung - ver­ein­te. Zudem spie­len in der Geschich­te der Israe­lis die Pro­phe­ten eine wich­ti­ge Rol­le. Sie sind ein Lehr­stück in Sachen Kri­tik der Macht und der Regie­rung im Namen der Gerech­tig­keit; sie bie­ten aber auch Stoff, um über die Ver­su­chun­gen des Macht­miss­brauchs bei selbst­er­nann­ten, gerech­ten Rich­tern nach­zu­den­ken. Man­cher Pro­phet konn­te der Ver­su­chung nicht wider­ste­hen, die gerech­te Stra­fe Got­tes selbst in die Hand zu neh­men. Der Feld­zug Joshu­as gegen die Kanaa­ni­ter ist hier das offen­kun­digs­te Bei­spiel. Auch jene, die nicht biblisch gebil­det sind, ken­nen das Pro­blem aus Star Wars, als Ana­kin - aus Wut über die Ermor­dung der eige­nen Mut­ter - sei­ne Jedi-Kräf­te zum Mas­sa­ker an Frau­en und Kin­dern ver­wen­det. Die­se dunk­le Sei­te der Macht wird in einer Demo­kra­tie nicht dem Gut­dün­ken oder Gut­wol­len ein­zel­ner über­las­sen. Nicht alle haben den Cha­rak­ter des Pro­phe­ten Jona, der ein schö­nes Bei­spiel für den Typus eines wider­wil­li­gen Pro­phe­ten, her­gibt. Jona läuft vor sei­ner Beru­fung weg. Er ver­steckt sich im Wal­bauch, um dann doch unge­dul­dig unter sei­nem von Got­tes Wurm ver­dorr­ten Rizi­nus­baum dar­auf zu war­ten, dass Gott (end­lich!) die ver­dor­be­ne Stadt Nini­ve dem Erd­bo­den gleich macht. In vie­len diplo­ma­ti­schen Gesprä­chen ist es am Ende der Erzäh­lung dann Gott, der Jona dazu über­re­det, Gna­de vor Recht wal­ten zu las­sen. Die Jona-Geschich­te gibt Anlass für die hoff­nungs­vol­le Phan­ta­sie einer Ide­al­be­set­zung im obers­ten Gericht: Wider­wil­li­ge Rich­ter, die kein Bedürf­nis haben, die Bestra­fung des Vol­kes zu ihrer Beru­fung zu machen; ein gött­li­ches Gesetz, das die Rich­ter mahnt, gnä­di­ger zu sein als sie es eigent­lich wollen. 

Die Ver­schmel­zung der jüdi­schen Gerech­tig­keits­tra­di­ti­on mit den ver­träum­ten Illu­sio­nen einer Ver­nunft­re­li­gi­on ken­nen wir spä­tes­tens seit der fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. In die­ser Ver­schmel­zung wird der Tem­pel der Gerech­tig­keit als Tem­pel der Ver­nunft gebaut - die Herr­schaft der Ver­nünf­ti­gen ist der Alb­traum jeder Repu­blik. Nicht nur In Isra­el kön­nen die Tag­träu­me­rei­en der Rich­ter und Poli­ti­ker schnell zu Desas­tern und Mas­sa­kern führen.

Der Tem­pel der Ver­nunft ist eingestürzt

Tei­le der israe­li­schen Lin­ken prak­ti­zie­ren die­se Ver­nunft­re­li­gi­on heu­te immer noch. In den ers­ten 50 Jah­ren des Staa­tes war dies kaum der Dis­kus­si­on wert. Das änder­te sich erst, als die letz­ten Hoff­nun­gen auf einen gerech­ten und ver­nünf­ti­gen Frie­den zer­bra­chen. Ver­nünf­tig ist ein Frie­den, der Sicher­heit im All­tag der Bür­ger Isra­els ermög­licht und Aner­ken­nung des Staa­tes durch sei­ne Nach­barn beinhal­tet. Nach dem letz­ten Auf­bäu­men der Zwei-Staa­ten-Lösung (Camp David 2000) begann der Tem­pel der Ver­nunft ein­zu­stür­zen. Heu­te ist davon kaum noch etwas übrig. Ein Frie­den ohne einen Ver­trag, pro­phe­ti­sche Gerech­tig­keit ohne eine Armee - das war der Abzug aus Gaza 2005, und die Inva­si­on aus Gaza am 7. Okto­ber 2023. Die damit ver­bun­de­nen Hoff­nun­gen und Träu­me lie­gen in blu­ti­gen Scherben.

Das The­ma, das damals wie heu­te die paläs­ti­nen­si­sche Füh­rung kom­pro­miss-ohn­mäch­tig macht, ist haus­ge­macht und hat wie­der­um mit dem Pro­blem von Recht und Gerech­tig­keit zu tun. Solan­ge das Rück­kehr­recht der Kin­des-Kin­der der 1948 Geflo­he­nen nicht ver­han­del­bar ist, bleibt die Gerech­tig­keits­for­de­rung jeder Gesamt­lö­sung auf der Stre­cke. Ein „Recht“ auf Rück­kehr wird es nie­mals geben und wer die­ses zur hei­li­gen Kuh gemacht hat, trägt die Mit­ver­ant­wor­tung dafür, dass bis­her jede Gele­gen­heit eines gerech­ten Frie­dens - der Rück­kehr­mög­lich­kei­ten im Klei­nen ein­schlie­ßen könn­te - tor­pe­diert wur­de. Der Man­gel an salo­mo­ni­scher Weis­heit der ande­ren Sei­te lies jede Hoff­nung auf einen Ver­hand­lungs­frie­den kol­la­bie­ren. Seit­her hat sich Isra­el radi­kal ver­än­dert; radi­ka­ler ist es aber nicht gewor­den, nur rea­lis­ti­scher. Die Jus­tiz­re­form ist ein Teil des israe­li­schen Rea­lis­mus und Lebens­wil­lens. Die­se drückt sich nicht nur in der brei­ten Koali­ti­on hin­ter der Reform­be­we­gung aus. Isra­el ist das Land mit einer der höchs­ten Gebur­ten­ra­ten in der west­li­chen Welt: 3 Kinder/Frau gegen­über 1,5/Frau in Deutsch­land. Das liegt nicht nur an den kin­der­lie­ben­den Reli­giö­sen, son­dern auch an einer dem Leben zuge­wand­ten Stim­mung im Land. Mög­li­cher­wei­se hat das Obers­te Gericht den Anschluss ver­passt. Auch das wäre hausgemacht.

Heroi­sche Selbst­be­gren­zung und ein Engel in der Tagesschau

In der „kon­sti­tu­tio­nel­le Revo­lu­ti­on“ (Aha­ron Barak) führ­te das Obers­te Gericht ein Schwert, das immer schnei­det, die juris­tisch nicht defi­nier­ten Kate­go­rien der „Unver­nünf­tig­keit einer Ver­ord­nung der Regie­rung oder gar eines Geset­zes des Par­la­ments. Ver­nünf­tig­keit liegt nor­ma­ler­wei­se in der Zustän­dig­keit der Phi­lo­so­phen, der Mathe­ma­tik oder Dog­ma­tik. Im poli­ti­schen Leben hat der Rück­griff auf Ver­nunft immer nur eines gebracht: Will­kür. Die US-Ver­fas­sung ist in hohem Maße unver­nünf­tig, da sie die Mei­nungs­frei­heit als höchs­tes Gut und Vor­aus­set­zung der Demo­kra­tie schützt. Für das „we the peo­p­le“, die sich aus frei­en Stü­cken eine Regie­rungs­form geben, gibt es kei­ne ver­nünf­ti­ge Erklä­rung. Dass eine klei­ne Grup­pe von Rich­tern ent­schei­det, was für 10 Mil­lio­nen Bür­ger im Staa­te Isra­el ver­nünf­tig sein soll, ist für vie­le Israe­lis der Skan­dal. Die­ser wur­de mög­lich, weil das Obers­te Gericht sei­ne Zustän­dig­keit selbst defi­nie­ren darf und stän­dig aus­ge­wei­tet hat. Das Baraks’sche Dik­tat „ever­y­thing is jus­ti­cia­ble“ (alles ist jus­ti­zia­bel) hat alle Ver­su­che der Begren­zung höchst­rich­ter­li­cher Macht­fül­le unterlaufen.

In der Gewal­ten­tren­nung erfolgt die Beschrän­kung der Judi­ka­ti­ve durch die Ein­schrän­kung der Zustän­dig­keit und im Fal­le des Obers­ten Gerichts durch den Rechts­weg, der vor­schreibt, wann es aktiv wer­den darf. So muss das deut­sche und ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sungs­ge­richt ange­ru­fen wer­den; es wird nicht von selbst aktiv. Die­se Not­wen­dig­keit einer Anru­fung wur­de in der revo­lu­tio­nä­ren Ent­gren­zung aus­ge­he­belt. Das Obers­te Gericht in Isra­el kann nicht nur selbst ent­schei­den, was jus­ti­zia­bel ist, es kann sich auch ohne Anru­fung selbst Fäl­le kre­ieren. Damit ist jede Vor­keh­rung gegen höchst­rich­ter­li­chen Akti­vis­mus obso­let. Das ist in den letz­ten Mona­ten über­deut­lich gewor­den, als das Obers­te Gericht die Gül­tig­keit von Geset­zen prüf­te, die sei­ne eige­ne Macht begren­zen sol­len. In jedem nor­ma­len Ver­fah­ren wür­den sich Rich­ter für befan­gen erklä­ren, wenn der ver­han­del­te Gegen­stand sie selbst betref­fen könn­te. Die bizar­re Ent­schei­dung des Obers­ten Gerichts, sei­ne eige­ne Macht nicht zu beschrän­ken wur­de in den deut­schen Medi­en als Sieg der Demo­kra­tie gefei­ert. Es lässt einen sprach­los und nur noch auf Wun­der hoffen.

Es braucht Grö­ße, sich dras­ti­sche Ver­glei­che zu ver­knei­fen. Aber nur die Vor­stel­lung, ein Rich­ter darf über die Ent­eig­nung sei­nes eige­nen Hau­ses ent­schei­den, macht schon deut­lich, wel­che heroi­sche Taten wir von israe­li­schen Rich­tern erwar­ten. Wir könn­ten das - um viel schlim­me­re Ver­glei­che zu unter­drü­cken - mit den Abge­ord­ne­ten des Bun­des­ta­ges ver­glei­chen. Das sind unse­re ein­zi­gen Hel­den, denen wir zutrau­en, mit Sinn und Ver­stand über die Fra­ge „Diät oder Fas­ten­zeit“ abzu­stim­men. Die Ergeb­nis­se sind bekannt. Reli­gi­ons­wis­sen­schaft­lich wür­den sich hier ganz neue Fra­gen erge­ben. Wir müss­ten dann den zivi­li­sa­to­ri­schen Mut grie­chi­scher Hero­en mit der Gerech­tig­keits­kraft hebräi­scher Pro­phe­ten ver­glei­chen. Was reprä­sen­tiert dann die jet­zi­ge Rich­ter­schaft in Isra­el? Ste­hen sie für den Hel­den­mut der Selbst­be­gren­zung oder die Selbst­ge­rech­tig­keit könig­li­cher Rich­ter­an­ma­ßung? Eines scheint aber gewiss zu sein: sie ste­hen nicht mehr für die kom­ple­xe Geschich­te und Gegen­wart Isra­els. Bei kom­ple­xen und rea­lis­ti­schen Lösun­gen der drän­gen­den Fra­gen steht die obers­te Rich­ter­schaft im Wege. Sie hat­ten ihre Chan­ce und haben sich gera­de in der Aus­ein­an­der­set­zung über ihre eige­ne Macht­fül­le als unfä­hig erwie­sen, Rea­li­tä­ten anzu­er­ken­nen. In Zukunft ist es die Auf­ga­be der Poli­tik, die Ein­heit der israe­li­schen Gesell­schaft zu wah­ren und schmerz­li­che Kom­pro­mis­se mög­lich zu machen. Die jet­zi­gen Vor­schlä­ge zur Jus­tiz­re­form sind Aus­druck der gegen­wär­ti­gen Stär­ke der israe­li­schen Demo­kra­tie. Ihre Kri­tik in der deut­schen Öffent­lich­keit geht am The­ma vor­bei. Wahr­schein­lich ist Isra­el (mal wie­der) nur Pro­jek­ti­ons­flä­che für deut­sche Sehn­süch­te. Das ist scha­de, denn die dor­ti­ge Debat­te über das obers­te Gericht und die Reform der Jus­tiz, könn­te uns inspi­rie­ren. Anstatt Freun­de und Ver­bün­de­te mit­ten im Krieg als „Rechts­ra­di­ka­le“ (Han­na Resch, ARD-Kor­re­spon­den­tin in Tel-Aviv) zu kri­ti­sie­ren, könn­ten wir von Isra­el ler­nen. Das hat womög­lich auch Frau Resch in der Tages­schau am 1.1.2024 gespürt, der mit­ten im vor­ge­fer­tig­ten Satz abkan­zeln­der Kri­tik ein Engel oder Black­out ins Schwert viel. Es gibt sie noch, die Pro­phe­ten in Isra­el. Ganz ohne Häme über ihr Miss­ge­schick, wäre der deut­schen Medi­en­land­schaft und Poli­tik genau das zu wün­schen, was Frau Resch dann vor lau­fen­der Kame­ra ver­such­te: inne zu hal­ten und sich zu sam­meln.

Der Text ist ursprüng­lich auf der Ach­se des Guten erschienen.