Mora­lisch gese­hen ist es eben­so falsch, sich
schul­dig zu füh­len, ohne etwas Bestimmtes
getan zu haben, wie sich unschul­dig zu fühlen,
wenn man tat­säch­lich etwas began­gen hat.
Han­nah Arendt

Ver­glei­che sind ein gewag­tes Spiel, wenn das, was ver­gli­chen wer­den soll, von vie­len zum Fetisch erho­ben und damit der gewöhn­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung ent­zo­gen wer­den soll. Ande­rer­seits: ohne Ver­gleich weder Gemein­sam­keit noch Unter­schied. Den­ken beginnt mit unter­schei­den, soll eine klu­ge Frau gesagt haben. Dass bei­de Vor­na­men mit A anfan­gen, mag Eso­te­ri­ker inspi­rie­ren, dem gesun­den Men­schen­ver­stand fällt zunächst auf, dass bei­de nichts anzu­bie­ten haben und damit weit aus dem poli­ti­schen Tages­ge­schäft her­aus­fal­len. In den Zei­ten der römi­schen Repu­blik nann­te man das den cur­sus hono­rum, eine tra­di­tio­nel­le Abfol­ge der Ämter, die erst durch­lau­fen wer­den muß­te, bevor man sich für das höchs­te Amt qua­li­fi­zie­ren konn­te. Kon­rad Ade­nau­er war in aller Kür­ze und unvoll­stän­dig Voll­ju­rist, ver­füg­te über mehr­jäh­ri­ge Berufs­er­fah­rung beim Amts- und Ober­lan­des­ge­richt Köln, bevor er auf dem Weg über Zwi­schen­stu­fen als Bei­geord­ne­ter vie­le Jah­re lang das Amt des Ober­bür­ger­meis­ters der Stadt Köln aus­üb­te. Er war Auf­sichts­rat in meh­re­ren gro­ßen Unter­neh­men, 12 Jah­re lang Prä­si­dent des preu­ßi­schen Staats­ra­tes und 73 Jah­re alt, als er am 15. Sep­tem­ber 1949 das Amt des Bun­des­kanz­lers über­nahm. Wir erspa­ren dem Leser die Auf­lis­tung der Vor­zü­ge, die ein Hel­mut Schmidt oder zahl­rei­che ande­re ins Amt mit­brach­ten. Die Pein­lich­keit zum gegen­wär­ti­gen Tiefst­stand wäre doch zu unerträglich.

Der Kanz­ler­kan­di­dat der Uni­on hat wenigs­tens schon ein Bun­des­land regiert, bevor er den Sprung nach ganz oben wagt und selbst ein Josch­ka Fischer hat sich Näch­te lang durch die Bücher gefres­sen und nach­ge­holt, was durch den feh­len­den for­ma­len Bil­dungs­weg ver­säumt wor­den war. Hin­ge­gen haben weder Adolf noch Anna­le­na einen Beruf, nicht ein­mal eine ordent­li­che abge­schlos­se­ne Aus­bil­dung. Der gekauf­te Mas­ter kann da nichts ersetz­ten. Sie haben weder Lebens- noch Berufs­er­fah­rung und erst recht kei­ne Erfah­rung in öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten. Nichts, aber auch wirk­lich gar nichts in ihrem bis­he­ri­gen Lebens­lauf qua­li­fi­ziert sie, Mil­lio­nen ande­ren mit gänz­lich ande­ren vor­zeig­ba­ren Lebens­leis­tun­gen zu sagen, wo es lang­ge­hen soll. Ist es viel­leicht gera­de die­ses Nichts, das sie so anzie­hend macht und vie­len ermög­licht, alles Mög­li­che, was sie sehen wol­len, dort hin­ein­zu­se­hen, wo nichts ist. Ein unbe­schrie­be­nes Blatt, mit dem nahen­den Welt­ende apo­ka­lyp­tisch orches­triert, als maxi­ma­le Pro­jek­ti­ons­flä­che jüdisch-christ­li­cher Erlö­sungs­phan­ta­sien? Der mit der Allein­schuld am Ers­ten Welt­krieg ein­set­zen­den mas­si­ven Mora­li­sie­rung der Poli­tik wür­de, statt einer Unter­bre­chung, bloss ein wei­te­res Kapi­tel hin­zu­ge­fügt werden.

Frei­lich, ein mar­kan­ter Unter­schied ist nicht zu über­se­hen. Wäh­rend der eine, männ­lich aggres­siv, alles ris­kier­te, die Nach­bar­län­der mit Krieg und Ver­nich­tung über­zog, die allei­ni­ge Welt­herr­schaft anstreb­te und bald größ­ter Feld­herr aller Zei­ten genannt wur­de, wirbt die ande­re mit ihrer kind­lich rei­nen, von allem Bösen unbe­fleck­ten Nai­vi­tät und möch­te die gan­ze Welt statt Herr­schaft mit ihren infan­ti­len Ret­tungs­phan­ta­sien beglü­cken. Radi­kal-prag­ma­tisch müs­se jetzt, so schrei­ben ihre intel­lek­tu­el­len Cla­que­re, ein Zei­ten­bruch her­bei­ge­führt, das Gute, wo nötig mit Gewalt, her­ge­stellt wer­den. Woll­te Hit­ler der deut­schen Her­ren­ras­se so viel Lebens­raum wie mög­lich ver­schaf­fen, geben die Grü­nen erst Ruhe, wenn der letz­te Bio­deut­sche ver­schwun­den, die mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft ver­wirk­licht, die Schuld end­lich getilgt sei, ein umge­kehr­ter Ras­sis­mus. Wo die einen den Krieg nach außen, trei­ben die ande­ren den Krieg nach innen. Der Kampf gegen rechts hat längst manich­äi­sche Züge. Bei­de eint wie­der­um, dass sie, so scheints, dem all­täg­li­chen, nor­ma­len Urtei­len ent­zo­gen sind. Sie reprä­sen­tie­ren eine, reli­gi­ös über­de­ter­mi­nier­te Erlö­sungs­sehn­sucht aus einer, offen­bar anders nicht auf­lös­ba­ren Bedräng­nis. Die reli­gi­ös über­höh­te Heils­er­war­tung an den „Füh­rer“ kann man unter ande­rem den Tage­bü­chern Goeb­bels able­sen. Das empör­te Auf­heu­len eines Robert Büti­ko­fer (wider­wär­ti­ger Dreckspatz, Grift­sprit­ze­rei), weil man auf tichy­se­inlick Lebens­lauf und Aus­sa­gen sei­ner Hei­li­gen genau­er unter die Lupe genom­men und mit der Wirk­lich­keit kon­fron­tiert hat­te, läßt sich mit auf­ge­klär­ter Ratio­na­li­tät allei­ne nicht ver­ste­hen. In den Anfän­gen der his­to­ri­schen Bibel­kri­tik wird man ähn­lich wüten­de Reak­tio­nen der Offen­ba­rungs­ver­wal­ter ver­nom­men haben. Schon die Kanz­ler­kan­di­da­tur von Mar­tin Schulz war mit zahl­rei­chen Meta­phern dem poli­ti­schen Dis­kurs ent­zo­gen und reli­gi­ös ver­frem­det wor­den. Das soge­nann­te Sturm­ge­schütz der Demo­kra­tie mar­kier­te mit dem Titel­bild des hei­li­gen St. Mar­tin einen beson­de­ren Tief­punkt poli­ti­scher Urteil­kraft. Schon 1946 monier­te Hein­rich Blü­cher an Karl Jas­pers die gedan­ken­lo­se Fort­set­zung der Kon­ti­nui­tät der abend­län­di­schen Schuld- und Erlö­sungs­dy­na­mik. Das christ­lich schein­hei­li­ge Gequat­sche die­ne nur dazu, die Ver­ant­wor­tung zu ver­nich­ten. Die Deut­schen hät­ten sich nicht aus der Schuld, son­dern aus der Schan­de zu ret­ten. Ihr eigent­li­cher Kon­flikt bestün­de in dem repu­bli­ka­nisch-frei­heit­li­chen Wil­len Weni­ger gegen­über den kosa­kisch-knech­ti­schen Nei­gun­gen Vieler. 

Auch nach dem Zwei­ten Welt­krieg zählt nicht die mora­li­sche Beru­hi­gungs­pil­le ‚wer schläft sün­digt nicht‘, son­dern poli­tisch: man ist nicht nur ver­ant­wort­lich für das, was man tut, son­dern auch für das, was man unter­lässt, aber hät­te tun kön­nen. Es heißt, bei sei­ner ers­ten mili­tä­ri­schen Akti­on, der Beset­zung des ent­mi­li­ta­ri­sier­ten Rhein­lan­des, ein kla­rer Bruch des Ver­sailler Ver­tra­ges, sei Hit­ler von all sei­nen mili­tä­ri­schen Aben­teu­ern am ner­vö­ses­ten gewe­sen, stan­den doch auf der ande­ren Rhein­sei­te 12 gut aus­ge­bil­de­te fran­zö­si­sche Divi­sio­nen parat, die sei­nem Vaban­que-Spiel mit has­tig zusam­men­ge­wür­fel­ten, schlecht aus­ge­rüs­te­ten und weit unter­le­ge­nen Kräf­ten mühe­los ein jähes Ende hät­ten berei­ten kön­nen. Maria Dabrows­ka, die gro­ße Dame der pol­ni­schen Lite­ra­tur, schrieb in ihrem Tage­buch im Mai 1939: „Über­haupt haben Eng­land und Frank­reich Hit­ler groß­ge­zo­gen, wie einst wir Preu­ßen an unse­rer Brust groß­ge­zo­gen haben.“ Auch Hit­lers per­fi­des Spiel, alle Dif­fe­ren­zen aus­zu­lö­schen und „die Deut­schen“ in die Mit­haf­tung der orga­ni­sier­ten Schuld zu zie­hen, haben vie­le, der eige­nen beque­men Ent­las­tung wegen, wei­ter­ge­spielt. Es sei nur an His­to­ri­ker-Streit und Gold­ha­gen-Debat­te erinnert.

Was also, wenn, bezo­gen auf die reli­giö­se Über­de­ter­mi­nie­rung, Anna­le­na und Adolf aus der glei­chen Prä­gung kämen und die eine nur die Kehr­sei­te des ande­ren wäre? Wäre dann nicht die öffent­lich gefor­der­te Rück­bin­dung von Aus­sa­gen an die Rea­li­tät nicht Wahl­kampf, son­dern viel all­ge­mei­ner, ein not­wen­di­ges, ethi­sches Kor­rek­tiv? Außer­halb der christ­li­chen Schuld- und Erlö­sungs­dy­na­mik for­mu­lier­te es Are­ndt poli­tisch: Die Rea­li­tät ist zu ihrem Schutz auf uns ange­wie­sen. Die­se Ver­ant­wor­tung geht uns alle an.