Im Unter­schied zu einem recht­li­chen Schuld­vor­wurf, der die Ver­let­zung eines welt­li­chen Geset­zes oder Gewohn­heits­rech­tes ange­ben muss, bezieht der mora­li­sche Schuld­vor­wurf sei­ne Legi­ti­ma­ti­on aus einem, nur bestimm­ten aus­er­wähl­ten Medi­en geof­fen­bar­ten Uni­ver­sal­ge­setz. Anders als das Tat­sa­che­n­er­eig­nis, das gewöhn­lich von meh­re­ren wahr­ge­nom­men, erfah­ren und in sei­nen Aus­wir­kun­gen gemein­sam gedeu­tet wer­den kann, erleuch­te­ten die das abend­län­di­sche Den­ken prä­gen­den Offen­ba­run­gen jeweils nur Einen, das gilt für den Mann am bren­nen­den Dorn­busch (Mose), wie für den, der die Höh­le der gefes­sel­ten ande­ren ver­ließ, um die Idee, nicht nur ihren Schat­ten mit sei­nem geis­ti­gen Auge zu schau­en (Pla­tons Höh­len­gleich­nis). Was der eine gehört haben soll, soll der ande­re erblickt haben, aber von wei­te­ren Betei­lig­ten, gar unab­hän­gi­gen Zeu­gen ist bis­lang nichts bekannt, ein Indiz für die merk­li­chen gedank­li­chen Defi­zi­te der Meta­phy­sik gegen­über den öffent­li­chen Ange­le­gen­hei­ten, in denen stets die gemein­sa­me Sache Vie­ler auf dem Spiel steht. Die tra­di­tio­nel­le Phi­lo­so­phie hat immer nur den Men­schen gedacht, zu einer poli­ti­schen Leis­tung wie der anti­ken Tra­gö­die war sie nicht in der Lage. Auch die mono­the­is­ti­sche Got­tes­vor­stel­lung kennt immer nur den Einen als Eben­bild und die ande­ren als blo­ße Wie­der­ho­lung des Einen.

Wer als Ver­mitt­ler einer nur ihm geof­fen­bar­ten Wahr­heit spricht, son­dert sich von den unter­schied­li­chen poli­ti­schen wie recht­li­chen Räu­men der Gleich­heit ab, die sich eine öffent­li­che Sache in ihre Mit­te legen und eta­bliert, sofern die Ange­spro­che­nen ihm zuhö­ren und fol­gen, eine neue räum­li­che Ord­nung, in der die prin­zi­pi­ell unend­li­che, mit jeder Geburt, jedem Neu­an­fang erwei­ter­ba­re Dif­fe­renz der mög­li­chen Posi­tio­nen und Stand­punk­te (kei­ne Mei­nung ohne Stand­punkt) auf ein nur noch zwei­wer­ti­ges Über- und Unter­ord­nungs-Ver­hält­nis redu­ziert wird. Mit etwas Glück stößt man in alten Kir­chen noch auf die Schran­ke, die den Raum der Kle­ri­ker von dem der Lai­en sepa­rier­te. Hören fällt hier mit Gehor­chen, Unter­schied mit Abfall zusam­men: man kann sich dem Schuld­vor­wurf unter­wer­fen und gelo­ben, alle Vor­schrif­ten des Herrn für­der­hin gehor­samst zu erfül­len oder den­je­ni­gen, der den Vor­wurf erhebt, von sei­nem Platz ver­trei­ben, um den Platz des Herrn selbst ein­zu­neh­men und dau­er­haft zu behaup­ten, was in aller Regel nicht ohne Gewalt zu bewerk­stel­li­gen ist. Ter­ti­um non datur. Machen sich neben dem einen Herrn und sei­nen Vor­schrif­ten kon­kur­rie­ren­de Begehr­lich­kei­ten breit, wozu auch Frei­heit und Sicher­heit einer pri­va­ten Sphä­re vor poli­ti­schen, reli­giö­sen oder mora­li­schen Über­grif­fig­kei­ten gehö­ren, muss das Schwert gegür­tet und den Abfal­len­den der Gar­aus gemacht wer­den, einer­lei, welch ande­re Bin­dun­gen hier noch eine Rol­le spie­len könn­ten. Die Bin­dung an den Einen domi­niert alle ande­ren Bin­dun­gen, die an die Fami­lie oder das Land oder auch nur an das pri­va­te Hob­by. Die­ses Sol­len erlaubt kei­ne ande­re Abwä­gung und gilt unbe­dingt. („.. und erschla­ge sei­nen Bru­der, Freund und Nächs­ten“, Mose 2, 32, 27). Peter Slo­ter­di­jk nann­te das Sinai-Sche­ma die Ursze­ne einer Tota­len Mit­glied­schaft (Got­tes Eifer, 2007 und Im Schat­ten des Sinai. Fuß­no­te über Ursprün­ge und Wand­lun­gen tota­ler Mit­glied­schaft, 2013). Immer radi­ka­ler wer­den auch heu­te wie­der aus dem Kreis der Wohl­mei­nen­den die­je­ni­gen Sterb­li­chen ent­fernt, die sich ein selbst ver­ant­wor­te­tes Leben nicht aus der Hand neh­men las­sen wol­len, was für die nahe Zukunft nichts Gutes erah­nen lässt.

Die Mora­li­sie­rung der Poli­tik führt die Figur des Sou­ve­räns in eine Ord­nung ein, in der aus poli­ti­scher Sicht der Platz des Sou­ve­räns leer zu blei­ben hat (Clau­de Lefort) und sie fügt die Gewalt in eine Raum­ord­nung ein, die aus recht­li­cher wie poli­ti­scher Sicht eigens dar­aus ver­drängt wur­de („Wo die Gewalt in die Poli­tik selbst ein­dringt, ist es um die Poli­tik gesche­hen“. Han­nah Are­ndt, 1963). Auch der rund­erneu­er­te Herr bean­sprucht die voll­stän­di­ge Herr­schaft über das Leben. Was man­che Bio­po­li­tik nen­nen, ist bloß zum wie­der­hol­ten Mal auf­ge­wärm­te Theo­kra­tie. Unter dem dün­nen Fir­nis einer als „Zivil­ge­sell­schaft“ nur schein­bar befrie­de­ten Ord­nung bre­chen Herr­schafts­phan­ta­sie und Gewalt­sam­keit erneut explo­siv her­vor. Von Ein­tracht (con­cor­dia), einer der wich­tigs­ten poli­ti­schen Tugen­den einer bewohn­ba­ren Welt, spricht schon längst kei­ner mehr.

Mit dem Stutt­gar­ter Schuld­be­kennt­nis der deut­schen Pro­tes­tan­ten von 1945, ein Bekennt­nis vor Gott, nicht gegen­über den ande­ren, blie­ben sowohl Raum wie Posi­ti­on des Herrn und sei­ner Ver­kün­der intakt. Kurz dar­auf ent­stand die, was schon der Name unmiss­ver­ständ­lich zum Aus­druck brach­te, dezi­diert anti­po­li­ti­sche „Ohne Mich-Bewe­gung“, der Vor­läu­fer der spä­te­ren Frie­dens­be­we­gung, wenn nicht gar das prä­gen­de Bei­spiel aller deut­schen Nach­kriegs­be­we­gun­gen inklu­si­ve der infan­ti­li­sier­ten Glo­bus­ret­ter, die jeden Boden unter den Füßen ver­lo­ren haben. Die nach­hal­ti­gen Fol­gen bis heu­te hat gera­de Her­bert Ammon in einem Text auf Glob­kult dar­ge­stellt (His­to­ri­sche Schuld und poli­ti­sche Gegen­wart). Ammon erwähnt eine For­mu­lie­rung vom EKD-Rats­vor­sit­zen­den Hein­rich Bedford-Strohm, der eine Syn­ode als „Avant­gar­de des Rei­ches Got­tes“ bezeich­ne­te und damit schon sprach­lich eine Ver­bin­dung her­stell­te zwi­schen Lenin, der füh­ren­den Rol­le der Par­tei und der evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land. Schert einer aus und ver­setzt sich selbst vom mora­li­schen zurück in den poli­ti­schen Raum, wie sei­ner­zeit Phil­ipp Jen­nin­ger, ver­schwin­det er so unmit­tel­bar aus der öffent­li­chen Sicht- und Hör­bar­keit, wie nach ihm kei­ner mehr. Dass nun aus­ge­rech­net die deut­schen Pro­tes­tan­ten jene Avant­gar­de wie­der ein­füh­ren wol­len, die ganz Mit­tel-Ost­eu­ro­pa 1989 end­lich aus den vom sowje­ti­schen Impe­ri­um dik­tier­ten Ver­fas­sun­gen gestri­chen hat­ten, kann nur als Trep­pen­witz der Geschich­te bezeich­net werden.

Der mora­li­sche Vor­wurf ent­hält gegen­über dem juris­ti­schen zahl­rei­che unmit­tel­ba­re Vor­zü­ge: egal wer, selbst unmün­di­ge, gar kran­ke Kin­der kön­nen ihn über­all, zu jeder pas­sen­den oder unpas­sen­den Gele­gen­heit, an belie­bi­ge Adres­sa­ten rich­ten und ohne jeg­li­che for­ma­le Hür­de, Anfor­de­rung oder Vor­prü­fung erhe­ben. Nicht ein­mal irgend­ein Beleg für die erho­be­nen Behaup­tun­gen ist erfor­der­lich. Trifft der mora­li­sche Vor­wurf auf einen zeit­geis­ti­gen Erwar­tungs­ho­ri­zont und adres­siert sich an bereits mas­sen­me­di­al erfolg­reich eta­blier­te Feind­bil­der, ver­brei­tet sich das Gerücht in Win­des­ei­le, bevor auch nur die lei­ses­te Skep­sis sich Gehör ver­schaf­fen kann (die Hetz­jag­den von Chem­nitz). Zudem ent­hält der mora­li­sche Schuld­vor­wurf einen unmit­tel­ba­ren psy­cho­lo­gi­schen Iden­ti­täts­zu­wachs, der ohne den Umweg über die Aner­ken­nung der ande­ren qua­si völ­lig auto­nom ein­ge­stri­chen wer­den kann: es erhebt den Anklä­ger und ernied­rigt den Beschul­dig­ten und das alles ohne jede Aus­ein­an­der­set­zung, Streit oder Wett­be­werb vor Zuschau­ern. Der ande­re ist schon aus dem recht­li­chen Raum der Glei­chen ent­fernt, bevor er über­haupt wider­spre­chen kann. Der mora­li­sche Vor­wurf ist auf das Urteil der ande­ren nicht ange­wie­sen. Alles das, was in einem ordent­li­chen pro­ce­de­re zur Klä­rung einer juris­ti­schen Schuld selbst­ver­ständ­lich ist, vom audia­tur et alte­ra pars bis zum Aus­tausch eines Rich­ters wegen Befan­gen­heit, ist der mora­li­schen Schuld ent­behr­lich. Wo die­se ihre Stim­me erhebt, ist es um Frei­heit und Selbst­be­stim­mung geschehen.

Und: die mora­li­sche Schuld ver­geht nicht, da, gemes­sen an einem klas­si­schen Gerichts­pro­zess (ein fast schon ana­chro­nis­ti­sches Über­bleib­sel aus der Anti­ke), die zwei­te und drit­te Posi­ti­on, die des Ver­tei­di­gers und die des Rich­ters feh­len und damit Urteil, Stra­fe, Ver­bü­ßung und Wie­der­auf­nah­me in die Gemein­schaft auf das Jüngs­te Gericht hin­auf­ge­scho­ben sind. Die Schuld haf­tet, wie das Kains­mal, auf ewig, denen sie ange­hef­tet wur­de. Das welt­li­che, vom Ver­ges­sen bis zum Ver­söh­nen bleibt ihr äußer­lich. Wäh­rend die welt­li­che Schuld ein­zel­ne aus der Gemein­schaft her­aus­greift, um die beschä­dig­te Rechts­ord­nung für die ande­ren wie­der zusam­men zu fügen, orga­ni­sie­ren die Ord­nun­gen tota­ler Mit­glied­schaft die gesam­te Mensch­heit als schul­dig. Das Gere­de vom CO2 Fuß­ab­druck ist nur die Neu­auf­la­ge von Adams sünd­haf­tem Samen, der jedes Neu­ge­bo­re­ne schon infi­ziert hat, bevor es über­haupt sei­nen ers­ten Schrei von sich geben kann.

Vor weni­gen Wochen mach­te eine Anzei­gen­kam­pa­gne der Initia­ti­ve Neue Sozia­le Markt­wirt­schaft die Run­de, in der die Kanz­ler­kan­di­da­tin der Grü­nen, Anna­le­na Baer­bock als Moses mit zwei Ver­bots­ta­feln dar­ge­stellt wur­de. Wie nicht anders zu erwar­ten, rief sie die übli­chen Refle­xe der Immer­glei­chen her­vor, die hier nicht wei­ter von Belang sind. Wahr­schein­lich ohne sich des­sen bewusst zu sein, traf die Kam­pa­gne jedoch einen ent­schei­den­den Punkt. Erin­nert sei an die­ser Stel­le nur dar­an, dass Wal­ter Ulb­richt, ein Tisch­ler­ge­sel­le, auf dem Fünf­ten Par­tei­tag der SED im Juli 1958 die Zehn Gebo­te für den sozia­lis­ti­schen Men­schen ver­kün­de­te. Der mora­li­sche und der poli­ti­sche Sinn von Gesetz unter­schei­den sich fun­da­men­tal und ein weit über sei­nen aka­de­mi­schen Fach­ho­ri­zont hin­aus den­ken­der Ägyp­to­lo­ge wie Jan Ass­mann hat­te zu der For­mu­lie­rung gefun­den, dass die mosai­sche Unter­schei­dung eine Wen­de her­bei­ge­führt hat, „die ent­schei­den­der als alle poli­ti­schen Ver­än­de­run­gen die Welt bestimmt hat, in der wir heu­te leben“ (Jan Ass­mann, 2003). Auch Han­nah Are­ndt, Wal­ter Ben­ja­min und Carl Schmitt gehö­ren zu denen, in deren Gedan­ken der genann­te Unter­schied zwi­schen poli­ti­schem und mora­li­schem Sinn von Gesetz eine nicht unbe­trächt­li­che Rol­le spielt. („Wir sind so gewöhnt, Gesetz und Recht im Sin­ne der Zehn Gebo­te und Ver­bo­te zu ver­ste­hen, deren ein­zi­ger Sinn dar­in besteht, dass sie Gehor­sam for­dern, dass wir den ursprüng­lich räum­li­chen Cha­rak­ter des Geset­zes leicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten las­sen.“ Han­nah Are­ndt).

Die grü­ne Ideo­lo­gie dage­gen beruht auf der gleich­sin­ni­gen Schar­nier­funk­ti­on eines mosai­schen Sin­nes von Gesetz, das als Natur­ge­setz Ereig­nis­se mit Not­wen­dig­keit auf­ein­an­der fol­gen lässt, einer Gewiss­heits­her­stel­lung auf­ge­klär­ter Wis­sen­schaft, die wie bei Kant der Natur ihr Gesetz vor­schreibt und einem Moral­ge­setz, das den Sterb­li­chen alter­na­tiv­los das Leben vor­zu­schrei­ben sich erneut anschickt. Der Kli­ma­wan­del gilt als unbe­streit­ba­res Natur­ge­setz, sei­ne Gewiss­heit stammt aus wis­sen­schaft­li­chen Modell­rech­nun­gen, wor­aus zwin­gen­de Ver­hal­tens­vor­schrif­ten mit Not­wen­dig­keit abge­lei­tet sind, die weder Auf­schub noch Abwei­chung dul­den. Wer sich dem ver­wei­gert, wird zum Feind der Mensch­heit erklärt. Für Frei­heit ist in die­sem Gestell kein Platz. Das glei­che Schar­nier dien­te den Bol­sche­wis­ten als Herr­schafts­le­gi­ti­ma­ti­on, nur dass sie sich anstel­le des Natur­ge­set­zes auf das der Geschich­te berie­fen. Das ganz ande­re Extrem die­ser ein­fa­chen zwei­wer­ti­gen Herr-Knecht Logik im Haus des Herrn mar­kiert eine radi­kal-ortho­do­xe jüdi­sche Grup­pie­rung in New York, die aus den tota­li­tä­ren Ein­brü­chen des 20. Jahr­hun­derts die genau umge­kehr­te Kon­se­quenz einer tota­len Unter­wer­fung zog. Hit­ler sei, so berich­tet ein Mit­glied der Sat­ma­rer Gemein­de in ihrer auto­bio­gra­phi­schen Schil­de­rung des all­mäh­li­chen Aus­bruchs aus die­ser tota­len Mit­glied­schaft, von Gott als Stra­fe geschickt wor­den, „um die Juden dafür zu bestra­fen, sich selbst erleuch­tet zu haben. Er kam, um uns zu rei­ni­gen, um alle assi­mi­lier­ten Juden zu ver­nich­ten, alle fre­jen Jid­den, die dach­ten, sie könn­ten sich selbst vom Joch, die Aus­er­wähl­ten zu sein, befrei­en.“ (Debo­rah Feld­mann, Unor­tho­dox, 2016).

Die mas­si­ve Mora­li­sie­rung der Poli­tik begann nach dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges, der Urka­ta­stro­phe der euro­päi­schen Moder­ne und ent­fes­sel­te eine unheil­vol­le Dyna­mik von Schuld- und Erlö­sungs­phan­ta­sien, die bis heu­te, ins­be­son­de­re in Deutsch­land, weder dau­er­haft noch wirk­sam unter­bro­chen wur­de. Die Grü­nen und ihre intel­lek­tu­el­len Cla­queu­re wür­den sie weder unter­bre­chen, noch auf­lo­ckern, nur wei­ter radikalisieren.

zuerst publi­ziert auf: Glob­kult