Lebens­er­fah­ren nennt man jeman­den, der viel her­um­ge­kom­men ist, viel erlebt hat, zahl­rei­che unter­schied­li­che Län­der, Men­schen, Sit­ten und Gewohn­hei­ten ken­nen­ge­lernt, ja sie buch­stäb­lich erfah­ren hat. Dage­gen wird man Men­schen, die nie aus ihrem klei­nen Dorf hin­aus­ge­kom­men sind und sol­chen, die das geis­ti­ge Milieu ihres Kon­fir­ma­ti­ons­stuhl­krei­ses ihr Leb­tag nicht ver­las­sen haben, einen eher beschränk­ten Hori­zont attes­tie­ren. Erfah­ren kann nur wer­den, wer sich Gefah­ren aus­set­zen kann, wobei hier als Gefahr nicht nur eine exis­ten­ti­el­le Lebens­ge­fahr gemeint ist, son­dern jeg­li­che Kon­stel­la­ti­on, in der man nicht sicher vor­aus­se­hen kann, was sich als Nächs­tes ereig­nen wird. Für die­ses Feh­len von Gewiss­heit gibt es im Deut­schen den schö­nen Begriff unheim­lich. Unheim­lich kann schon der dich­te Wald sein, in dem das flaue Gefühl der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit auf­taucht, was in aller Regel das berüch­tig­te Pfei­fen im Wal­de her­vor­ruft. Wer noch genü­gend Phan­ta­sie hat, mag sich vor­stel­len, wie es wohl gewe­sen sein muss, als sich Gefähr­ten auf unsi­che­ren Schif­fen das ers­te Mal aufs offe­ne Meer hin­aus­wag­ten und außer Was­ser rings her­um nichts ande­res mehr zu sehen war. Im Unter­schied zu heu­te galt frü­he­ren Zei­ten die Fähig­keit, unge­wis­se, gar gefähr­li­che Begeg­nun­gen, zumal mit Frem­dem, in fried­li­che und angst­re­du­zier­te Bah­nen zu len­ken, ungleich mehr.

Auch ohne die phi­lo­so­phi­sche Auf­klä­rung des Wes­tens haben vie­le Kul­tu­ren den inne­ren Zusam­men­hang zwi­schen Gefah­ren und Erfah­rung intui­tiv ver­stan­den. Der Eth­no­lo­ge Arnold van Gen­nep berich­te­te von zahl­rei­chen Über­gangs­ri­ten, mit deren Hil­fe die schwie­ri­ge bio­gra­fi­sche Pas­sa­ge vom Jugend­li­chen zum Erwach­se­nen gefor­dert, erleich­tert und ein­ge­übt wur­de. Auch in Euro­pa war über vie­le Jahr­hun­der­te hin­weg nach der Lehr­zeit in etli­chen Hand­werks­be­ru­fen die Wan­der­schaft, auch Walz genannt, die Vor­aus­set­zung dafür, über­haupt Meis­ter wer­den zu kön­nen. Selbst die von allem Welt­li­chen zurück­ge­zo­ge­nen Klös­ter schick­ten Mön­che auf gefähr­li­che Rei­sen durch ganz Euro­pa, um wert­vol­le Bücher zu kopie­ren. Klug­heit und Erfah­rung wur­den eben­so geschätzt wie die Gelas­sen­heit, nicht bei jeder klei­nen Unter­bre­chung des Gewohn­ten gleich aus der Haut zu fah­ren. Die Groß­vä­ter erzähl­ten nicht nur von frü­her, son­dern auch von drau­ßen, dem außer­halb der ver­trau­ten Umgebung.

Von der­lei zivi­li­sa­to­ri­schen Errun­gen­schaf­ten sind wir wie­der weit ent­fernt. Die glei­chen Leu­te, die Men­schen­rech­te für ein unhin­ter­geh­ba­res Prin­zip hal­ten, bezeich­nen mitt­ler­wei­le ande­re Men­schen als gefähr­li­che Bak­te­ri­en, krebs­ar­ti­ge Geschwü­re oder Unkraut. Wer sol­che Reden in die all­ge­mei­ne Spra­che ein­führt, hat sicher auch kei­ner­lei Pro­ble­me damit, zur Besei­ti­gung von Unkraut ent­spre­chen­de Ver­nich­tungs­mit­tel ein­zu­set­zen. Die Spra­che ist inzwi­schen so offen men­schen­ver­ach­tend, dass man sich ver­wun­dert fra­gen muss, wie das in einem Land gesche­hen kann, das sei­ne Betrof­fen­heits­kul­tur zu höchs­ter Blü­te getrie­ben hat.

Schon am Begriff Flücht­lin­ge war deut­lich gewor­den, in wel­chem Aus­maß sei­ne all­ge­mei­ne Ver­brei­tung Berich­te über tat­säch­li­che Erfah­run­gen mit Frem­den unter­sag­te. Erin­nert sei nur an das ‚kom­mu­ni­ka­ti­ve Beschwei­gen‘ der Sil­ves­ter­er­eig­nis­se von Köln. Bis heu­te muss das eine Bild mit immer grö­ße­rem Auf­wand gegen die Ereig­nis­se der Wirk­lich­keit abge­dich­tet wer­den, ein Zug, der tief in der abend­län­di­schen Geis­tes­ge­schich­te ver­an­kert ist. Han­nah Are­ndts ers­te Vor­le­sung bei Heid­eg­ger – Pla­tons Sophis­tes - han­del­te von der Fest­schrei­bung der Rang­ord­nung zwi­schen sophia und phro­ne­sis, eine Ver­fes­ti­gung, die nach dem Unter­gang der Anti­ke erst Machia­vel­li wie­der auflockerte.

Die Inten­si­tät der Auf­re­gung um eine ver­gleichs­wei­se belang­lo­se Wahl eines Minis­ter­prä­si­den­ten hat die­sen Zug der Wirk­lich­keits­ab­wehr noch deut­li­cher als bis­lang her­vor­tre­ten las­sen. Wie ein nächt­li­cher Blitz, der eine Sze­ne­rie schlag­ar­tig erhellt, machen Reak­ti­on und Wort­wahl der Bun­des­kanz­le­rin die poli­ti­sche Kon­se­quenz sicht­bar, die in der Tra­di­ti­on der moder­nen Selbst­ver­ge­wis­se­rung liegt. Mit Ver­weis auf Machia­vel­li, der die­sen Kon­flikt zwi­schen Chris­ten­mensch und poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung als ers­ter ver­stan­den hat­te, sprach Are­ndt vom Unter­schied zwi­schen der ‚Sor­ge um das Selbst‘ gegen­über der ‚Sor­ge um die Welt‘ und davon, dass es in der Poli­tik dar­um gehe, nicht gut zu sein, also gera­de nicht im Sin­ne christ­li­cher Moral­vor­stel­lun­gen zu han­deln. Das im christ­li­chen Abend­land häu­fi­ger vor­kom­men­de Auf­flam­men reli­gi­ös moti­vier­ter Rei­ni­gungs­lei­den­schaf­ten spricht für die anhal­ten­de Sta­bi­li­tät der „Sor­ge um das Selbst.“

Wenn eine pro­tes­tan­to-sta­li­nis­tisch gepräg­te Bun­des­kanz­le­rin einen demo­kra­ti­schen Wahl­akt als unver­zeih­lich qua­li­fi­ziert, so erhält nicht nur das all­ge­mei­ne und glei­che Wahl­recht eine neue Qua­li­tät. Bestimm­te Abge­ord­ne­te sind nun nicht mehr gleich. Sie tra­gen das Kains­mal deut­lich sicht­bar auf der Stirn. Mit unver­zeih­lich wird zudem eine Schuld ein­ge­führt, die im Straf­ge­setz­buch aus gutem Grund nicht vor­ge­se­hen ist – die Kon­takt­schuld. Die Unver­zeih­li­chen dürf­ten eigent­lich weder wäh­len, noch sich über­haupt in einem öffent­li­chen Raum auf­hal­ten, denn jeder Kon­takt mit einem sol­chen, jede zufäl­li­ge Begeg­nung auf der Stra­ße, im Fahr­stuhl, in einem Cafe ent­hält schon die Gefahr einer Anste­ckung, die nie wie­der gut­zu­ma­chen wäre. Jude und Klas­sen­feind in einem, wer­den die Unver­zeih­li­chen zur Ver­kör­pe­rung alles Nega­ti­ven. Die erfolg­rei­che Aus­la­ge­rung ent­las­tet die Aus­la­gern­den vom Anspruch eige­ner Kon­flikt­be­wäl­ti­gung und ver­hilft ihnen zu einer fra­gi­len Schein­iden­ti­tät. Damit sie nicht wie­der zer­bricht, muss das Feind­bild per­ma­nent gemacht wer­den. Müss­te man jetzt die Unver­zeih­li­chen nicht in Lagern kon­zen­trie­ren? Die auf dem intel­lek­tu­el­len Tief­punkt ange­kom­me­ne SPD ent­blö­de­te sich nicht, Geset­ze wie­der rück­gän­gig machen zu wol­len, die mit unver­zeih­li­chen Stim­men ver­ab­schie­det wor­den waren. Kurz­fris­ti­gen Ruhm erlang­te auch die Vor­sit­zen­de einer Land­tags­frak­ti­on mit der bemer­kens­wer­ten Ein­sicht, Faschis­ten wür­de man zwei­fels­frei dar­an erken­nen, dass sie höf­lich sind. Sel­ten wur­de anschau­li­cher demons­triert, wie sich Geschich­te als Far­ce wiederholt.

Die Kon­takt­schuld wirkt als Erfah­rungs­ver­bot. Das Ver­bot der Erfah­rung steckt schon im ers­ten der zehn Gebo­te: Du sollst kei­nen ande­ren Gott neben mir haben heißt ja nichts anders als: Du sollst eine Vor­stel­lung vor alles ande­re stel­len. Unver­zeih­lich han­delt ab sofort schon der blo­ße Skep­ti­ker, der um die Vor­stel­lung her­um einen eige­nen Zugang zur Wirk­lich­keit sucht, ist doch der Kon­takt zur Wirk­lich­keit als sol­cher schon ver­däch­tig. Die Bonner/Berliner Repu­blik ist zu Ende. Die SED wird’s freu­en. Nach­dem Sie schon die Ost­zo­ne rui­niert hat, kann sie jetzt auch im Wes­ten gan­ze Arbeit leis­ten. Der Anti­fa­schis­mus wird zur neu­en Staats­re­li­gi­on dekla­riert, das Grund­ge­setz dient nur noch als Fas­sa­de. Mei­nungs­frei­heit stand auch in der DDR-Ver­fas­sung. Gefor­dert wird jetzt ein ech­tes Bekennt­nis zum neu­en Ein­heits­glau­ben. Wer noch nicht kon­ver­tiert ist, soll­te es jetzt tun. Cui­us regio eius reli­gio. Im Kampf gegen das Böse sind Par­tei­en ent­behr­lich, eine geschlos­se­ne Front genügt. Man müs­se jetzt zusam­men­ste­hen. Die Bück­lin­ge beei­len sich und ste­hen Schlan­ge. Eine all­ge­mei­ne Kenn­zeich­nungs­pflicht der Unver­zeih­li­chen müss­te jetzt die ver­blei­ben­den Rei­nen vor jeder Kon­ta­mi­na­ti­on schüt­zen. Der gan­ze Spuk wäre sofort vor­bei, wenn Bür­ger tun wür­den, was nach all­ge­mei­ner Auf­fas­sung zum Sta­tus eines Erwach­se­nen gehört: sich in Din­gen all­ge­mei­ner Rele­vanz eine eige­ne Mei­nung zu bil­den. Es wür­de schon genü­gen, Bun­des­tags­re­den zu ver­fol­gen oder das offi­zi­el­le Pro­gramm zu stu­die­ren. Die ganz Muti­gen könn­ten sogar einen der Unver­zeih­li­chen zum Kaf­fee ein­la­den und sich, wie das am Tisch so üblich ist, gepflegt unter­hal­ten. Der gan­ze infan­ti­li­sier­te Zir­kus funk­tio­niert nur unter der Vor­aus­set­zung, dass sich erwach­se­ne Men­schen ohne jede Not vor­schrei­ben las­sen, wel­che Begeg­nun­gen erlaubt und wel­che ver­bo­ten sind. Das eins­ti­ge Land der Dich­ter und Den­ker hat sich zur Regi­on krei­schen­der und ducken­der Kin­der zurück­ent­wi­ckelt. Zum drit­ten Mal nach 1918 tun die Deut­schen alles, um sich den Titel des poli­tisch dümms­ten Vol­kes red­lich zu verdienen.

Im End­sta­di­um der ideo­lo­gi­schen Fik­ti­on ent­steht durch die Ein­bil­dungs­kraft zwi­schen dem fik­ti­ven Bild des Wirk­li­chen und einer mög­li­chen Erfah­rung ein unüber­wind­li­cher Gra­ben. Der rei­ne Glau­be hat jeden Außen­be­zug auf­ge­ge­ben, sich voll­stän­dig in sich selbst zurück­ge­zo­gen und sich dort ver­kap­selt. Alle Türen und Fens­ter sind fest ver­rie­gelt. Iro­nie der Geschich­te: sie nen­nen ihr Erfah­rungs­ver­bot welt­of­fen. Tat­säch­lich han­delt es sich um ein von der Wirk­lich­keit abge­son­der­tes Selbst­ver­hält­nis, das die theo­lo­gi­sche mit der phi­lo­so­phi­schen Meta­phy­sik teilt. Die Mona­de, so erklär­te Leib­niz, hat kei­ne Fens­ter, ent­hält aber in sich das Gan­ze. Das Para­dox der Kant’schen Meta­phy­sik: die Fra­ge nach der Bedin­gung der Mög­lich­keit der Erfah­rung ver­un­mög­licht jede tat­säch­li­che Erfah­rung. Nur sei­ne drit­te Kri­tik arbei­te­te mit einem Weltbezug.

Die voll­stän­di­ge Abson­de­rung von der wirk­li­chen Welt hat Fol­gen: Die Schar der aus­er­wähl­ten Hei­li­gen lan­det am Ende dort, von wo sie her­kam. Die ers­ten Chris­ten­ge­mein­den Roms tra­fen sich bekannt­lich in den Kata­kom­ben. War­um zuse­hen, wie sie immer mehr die bewohn­te Welt ver­wüs­ten? War­um erfül­len wir ihnen nicht ihren sehn­lichs­ten Wunsch? Unge­nutz­te weit­läu­fi­ge Bun­ker­an­la­gen tief unter der Erde sind noch aus­rei­chend vor­han­den. Als Ver­samm­lungs­stät­te einer Sek­te wür­den sie sich vor­treff­lich eignen. 

Zuerst publi­ziert auf: GLOBKULT
jetzt auch auf The Euro­pean und TUMULT-Blog
Vera Lengs­feld war so freund­lich, auf den Text auf­merk­sam zu machen - Bes­ten Dank!